Der Blaumilchkanal
Abgesehen von dem getreuen Kuhhirten stand das ganze Dorf um den Schächter-Heiland versammelt.
»Wir haben Glück, daß er noch bei uns ist«, flüsterte Doktor Hermann Spiegel, der ein seidenes Käppchen trug, das er sich von seinen Nachbarn ausgeliehen hatte, und auf dem dreimal hintereinander mit Goldfaden gestickt >G ood B oy < stand. »Ich hatte schon immer das Gefühl, daß Ja’akov Sfaradi eine besondere Persönlichkeit ist, daß irgendein mächtiges inneres Feuer in seinen Augen brennt.«
»Richtig«, stimmte Elifas Hermanowitsch dem Doktor zu. »Manchmal schlagen Feuerzungen aus seinen Augen ...«
»Pst! Pst!« brachten sie die Leute zum Schweigen. »Betet lieber! Es gibt noch immer kein Wasser!«
Als die Sterne in den Himmelshöhen erschienen und die ganze Welt in Dunkelheit gehüllt war, ging der Schächter zu seiner Gemeinde hinaus. Er stieß wieder in seinen Schofar und streckte die geäderten Arme aus:
»So seid ihr also gekommen«, erhob er seine Stimme in dem Schweigen, und sein dünner Körper streckte sich noch höher. »Ihr seid zu mir gekommen, um bei mir und beim Allerheiligsten sofortige Buße für alles zu erreichen, was ihr seit Jahren gesündigt habt. Aber ich lasse euch wissen, daß eure Heuchelei vergeblich ist. Euer Gebetemurmeln ist vergeblich, wenn ihr in euren Herzen die gleichen gottlosen Ungläubigen bleibt.«
»Meister«, sagten die Leute und verneigten sich, »also ehrlich, es ist uns ernst damit. Wir werden haufenweise beten.«
»Ihr und beten?« explodierte der Schächter. »Glaubt ihr Narren, der Meister des Weltalls braucht eure erbärmlichen Gebete? Nein, meine Freunde, wenn ihr einmal am Tag des Gerichts vor ihm steht, gebrochen, zerschmettert wie eine weggeworfene Schüssel, wird der Herr der Welt nur eine Frage an eure Seelen stellen: >Menschensohn, für wen hast du bei den Gemeindewahlen gestimmt?<«
Daraufhin kehrte der Schächter den verlorenen Seelen den Rücken und schritt in seinen Bau zurück. Die Bauern standen benommen und verwirrt da, weil sie unfähig waren, die Absicht der Predigt zu ergründen.
»Meister«, schrien sie verzweifelt Ja’akov Sfaradi nach, »verlaß uns nicht, verlaß uns nicht in dieser Stunde! Gib uns Wasser, Meister!«
Am Fenster erschien die Gestalt des Schächters, von dem zuckenden Licht zweier Sabbathkerzen erhellt. Ehrfürchtige Stille breitete sich aus.
»Also sprich Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger.« Der Schächter breitete seine Arme aus. »Der Unaussprechliche hat meine Bitte erfüllt. Morgen früh um sechs Uhr wird frisches, süßes Trinkwasser aus den Wasserhähnen fließen. Nun geht heim und betet weiter! Der Schächter hat gesprochen!«
Die Leute gingen heim und taten, wie ihnen der Schächter geboten hatte, die ganze Nacht lang. Bei Sonnenaufgang, als der Zeiger der Sonnenuhr seinen ersten Schatten warf, traten sie an ihre Wasserhähne und drehten sie mit zitternden Händen auf. Aber es kam kein Wasser. Nicht ein Tropfen.
Die Verlängerung des Wunders verursachte eine verständliche Verwirrung unter der örtlichen Bürgerschaft, aber der verwirrteste war der Wunderwirker selbst. Nach einer Nacht gesegnet gesunden Schlafs stand der Schächter früh auf, streckte sich kräftig, stürzte zum Wasserhahn - und entdeckte, was er entdeckte. In die Seele des geistigen Hirten fraß sich scharf eine verständliche Gereiztheit. Er eilte zu seiner Schreibtischlade, zog einen fast vergessenen Umschlag hervor und las den darin enthaltenen Brief nochmals aufmerksam durch:
>An den Ehrenw. Bürgermeister
Kimmelquell
Sehr geehrter Herr!
Infolge Reparaturarbeiten an der Pumpe sind wir gezwungen, den Wasserzufluß zu Ihrem Dorf am 13. ds. M. für vierundzwanzig Stunden zu unterbrechen, beginnend um sechs Uhr morgens.
Es ist ratsam, vorher einen Trinkwasservorrat anzulegen.
Mit kameradschaftlichen Grüßen Die Leitung Mekorot Wasserwerke G.m.b.H.<
Ja’akov Sfaradi las den Brief mehrmals durch, wurde aber deshalb keine Spur klüger aus ihm. Plötzlich schoß ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Vielleicht waren irgendwelche Ungläubige, so wie der Barbier oder der Schuhflicker, in der Nacht hinausgegangen und hatten den
Haupthahn zugedreht, der sich in einiger Entfernung vom Dorf befand. Der Schächter legte den Brief in den Umschlag und den Umschlag in seine Lade zurück. Dann eilte er zu dem Haupthahn hinaus, aber zu seiner großen Enttäuschung entdeckte er, daß dieser wie gewöhnlich offenstand. Was also stimmte
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