Der Blaumilchkanal
so unnatürlich war, wie er das zuerst schien. Diese Kollektivmeinung änderte sich jedoch mittags, als der Schächter eine Leiter gegen eine der vier einsamen Betonsäulen des Gemeindeamtes in spe lehnte, zur Spitze kletterte und gefühlvoll begann:
»Seht, wohin wir gekommen sind! Kimmelquell wurde prostituiert! Eure Eltern, Gott gebe ihnen die ewige Ruhe, fürchteten noch den Herrn und hielten die Gebote der Thora ein. Ihr aber hört nicht mehr auf die Rabbiner, sondern nur auf Leute, in deren Familien eine solche Schande eine tägliche Begebenheit ist. Gewohnheitssünder seid ihr alle! Es gibt nicht einen einzigen anständigen Menschen im ganzen Dorf!«
Die Leute sammelten sich um den Pfosten und hörten, Verwirrung in den Gesichtern, der unerwarteten Strafpredigt zu, bis sie allmählich die Absicht des Schächters zu ergründen begannen.
»Höre, Ja’akov«, schrie jemand hinauf, »willst du damit sagen, daß jeder Mann im Dorf einen Anteil an dem Baby hat?« Die rüden Angehörigen der Menge brachen in lärmendes Gelächter aus. Das aber spornte den Dorfpropheten nur an.
»Ihr werdet nicht mehr lange lachen, ihr Schurken!« brüllte Ja’akov Sfaradi. »Was glaubt ihr, wie lange der Allerheiligste eure Mißachtung seiner Gebote dulden wird? Ihr stellt keine Mezuzot in eure Einfahrten, am Sabbath raucht ihr wie die Schlote, aber in der Synagoge auftauchen, auch nur einmal in der Woche ...«
»Was meinst du damit, Ja’akov?« unterbrach ihn unten einer, »in was für einer Synagoge?«
»Es gibt eben keine!« donnerte der Schächter verächtlich. »Aber selbst wenn es eine Synagoge im Dorf gäbe, würdet ihr nicht kommen. Ich kenne euch! Eure Kinder werden Götzendiener, wie der Barbier und der Schuhflicker! Aber wartet nur, Sünder, wartet nur; ihr werdet für diese Liederlichkeit noch einen großen Preis bezahlen.«
Die Menge hörte in wachsender Verwirrung zu.
»Höre, Ja’akov«, fragte unten einer, »wann hast du dich das letzte Mal mit dem Allerheiligsten persönlich unterhalten?«
Der Schächter erschauerte, als hätte man ihm mit einer Peitsche ins Gesicht geschlagen. Er richtete den Blick nach oben, als wollte er sagen: >Hast du das gehört?< Dann richtete er sich auf und sagte mit messerscharfem Flüstern:
»Ihr werdet schon sehen, Sünder! Der Herr wird euch strafen. Es könnte sein, daß ihr morgen von sechs Uhr früh an keinen Tropfen Wasser haben werdet, um euren Durst zu löschen. Wer weiß? Die Wege des Allmächtigen sind geheimnisvoll. Weg von mir, Ungläubige, weg von mir, euer bloßer Anblick ekelt mich!«
Dann kletterte der Schächter die Leiter hinunter und kehrte ohne einen Blick auf die stockstill dastehenden Sünder heim. Die Bauern starrten die dürre, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt an und schüttelten den Kopf, denn keiner konnte sich Sfaradis seltsames Benehmen erklären, ohne anzunehmen, daß die Schwangerschaft der Schuhflickerstochter ihn verrückt gemacht hatte.
»Laßt euch von ihm nicht zum Narren halten«, warnte Elifas Hermanowitsch die Zunächststehenden. »Er will den Preis für eine Überwachung meiner Küche erhöhen. Ich kenne ihn schon.«
»Er spielt sich auf«, meinte der Steueraufseher zum örtlichen Polizeichef. »Er will in den Dorfrat wiedergewählt werden, das ist alles.«
Die Bauern grinsten und wechselten irdisch saftige Bemerkungen. Aber tief im Herzen witterten sie, daß die Schwingen von etwas geheimnisvollem immer näher an das Dorf heranschwebten.
Nach objektiver Überlegung, bar jedes gefühlsmäßigen Tenors, kam Dulnikker zu dem Schluß, daß er seinen Krankenwärter nur in einem rein technischen Sinn vermißte. Des Jünglings schädliche Einstellung zu seinem erhabenen Projekt, das dem Leben dieses >durch Selbstgefälligkeit zum Tode verurteilten Provinzdorfes< frisches Blut injiziert hatte - ja, jene zynische Haltung plus der sexuellen Verirrung hatte seit langem eine unsichtbare Trennwand zwischen ihm und seinem verhätschelten Sekretär errichtet. Jetzt grollte Dulnikker Zev wegen der herzlosen Worte, die er vor seiner Flucht via Balkon geäußert hatte, und blätterte in seinem Gedächtnis unter >Bestrafung, strengere< nach, beginnend mit Disziplinarmaßnahmen durch Parteikanäle und endend mit der Abwertung des schändlichen Günstlings zu seinem Zweiten Sekretär. Schließlich beschloß der Staatsmann, dem minderwertigen Kerl die Höchststrafe aufzuerlegen: Er würde ihn in seiner Autobiographie nicht erwähnen! Dieser Akt einer
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