Der blinde Hellseher
begann, den Inhalt des
Kartons auf sein Bett zu stapeln. Es waren mindestens fünf Dutzend Tafeln Schokolade:
Milchgeschmack, Mokka, Nuß, Zartbitter und Krokant.
Klößchen sortierte. Fast
zärtlich sah er sie an. Immer wieder mußte er schlucken, weil ihm das Wasser im
Mund zusammenlief. Kopfschüttelnd wurde er eine Weile von Tarzan beobachtet.
„Jetzt reicht’s, Willi! Zieh’
deinen Trainingsanzug an. Wir gehen in die Turnhalle. Das nützt dir mehr.“
Klößchen protestierte, aber
Tarzan blieb hart. Wenig später waren sie in der Turnhalle. Sie stand etwas
abseits, zum Park zu, also noch hinter dem Pauker-Silo, wie das Nebengebäude
mit den Apartments für die Lehrer genannt wurde.
In der Turnhalle war schwer was
los. Schüler der 11 a spielten Basketball — natürlich mit der eleganten
Lässigkeit, wie es sich für die ,Großen’ gehört. Auf einer Matte im Vorraum
übten die Fünfkläßler Judo. Aber es sah mehr wie Catch aus; und Tarzan — der
als Blaugurt-Träger ein erstklassiger Judoka ist — blieb kurz stehen, um ein
paar Griffe zu erklären und darauf hinzuweisen, daß das Reißen an den Haaren
und das Bohren in der Nase des Gegners strengstens verpönt ist und nicht zum
Judo gehört.
Sie fanden eine freie Stelle
bei den Geräten. Während Tarzan komplizierte Übungen an Reck und Barren
durchturnte, mußte Klößchen sich ohne Verschnaufpause mit Gymnastik abschinden.
Er hielt sich wacker. Schweiß lief ihm aus allen Poren; und als es Zeit wurde
zum Duschen, meinte Tarzan, ein bescheidenes Abendessen mit grünem Salat und
Tee hätte Klößchen sich jetzt verdient.
Freilich — im Speisesaal dann,
wo es von den Stimmen der vielen Schüler wie in einem Bienenkorb summte, vergaß
Klößchen seine guten Vorsätze, aß sechs große Käsebrote und trank fünf Tassen
Kakao dazu. Dabei war er weder durch Tarzans Ermahnungen noch durch Rippenstöße
zu bremsen.
Für die 12- bis 14jährigen war um
halb neun Zapfenstreich. Das gebot die Hausordnung. Als alle im Bett lagen,
wurde das Licht gelöscht. Dr. Meinert, der heute EvD — Erzieher vom Dienst —
war, kam, gab jedem die Hand und wünschte Gute Nacht.
Dann kehrte allmählich Stille
ein in dem großen Gebäude. Gedämpft durch die Wände, hörte man murmelnde
Stimmen in den Nachbarbuden. Unten im Hof knallte ein Auto ein paar
Fehlzündungen durch den Auspuff, und leise trommelte der Regen gegen die
Fenster.
„Es regnet“, sagte Klößchen und
walkte an seinem Kopfkissen herum. Manchmal dauerte es eine halbe Stunde, bis
es die Form hatte, die er bequem fand.
„Na und?“ Tarzan lag im Bett
und sah zum Fenster. Der Himmel war nicht sehr dunkel. Nur ein paar Wolken
hatten sich über dem Schulgelände gesammelt.
„Das wird nachher nicht sehr
gemütlich für dich“, sagte Klößchen.
„Für Volker ist es auch nicht
gemütlich. Vielleicht liegt er gefesselt und geknebelt in dem Keller, friert
und hat Hunger.“
„Mann!“ sagte Klößchen
entsetzt. „Mir fällt eben was Schreckliches ein. Hoffentlich werde ich nicht
mal gekidnapt! Mein Vater hat doch viel zuviel Geld.“
Tarzan lachte. „Dich würden die
Kidnapper nicht satt kriegen. Schon deshalb bist du für die viel zu unbequem.“
Aber im Stillen dachte er: So hat doch alles zwei Seiten. Ob viel Geld
glücklich macht, ist noch sehr die Frage.
Später hörte der Regen auf.
Tarzan schlüpfte aus dem Bett. Leise zog er sich an. Seine ältesten Turnschuhe
nahm er, dunkle Jeans, eine tarngrüne Regenjacke und seine englische
Sportsman-Mütze, die er sonst nicht gern trug, weil sie so angeberisch aussah.
„Hals- und Beinbruch!“ wünschte
Klößchen. „Grüß’ Volker von mir. Wenn du ihn befreist, bist du der Held des
Tages. Vielleicht drückt dann die Internatsleitung ein Auge zu, und du fliegst
nicht aus der Schule — wegen nächtlicher, unerlaubter Entfernung vom
Schulgelände.“
„Red’ keinen Quark! Ich bin
lautlos wie ein Vampir, vorsichtig wie ein Fuchs und umsichtig wie ein
Dschungelkämpfer.“
„Dann hat ja die Mafia nichts
zu lachen“, meinte Klößchen trocken. Versehentlich knisterte er mit
Silberpapier. Und verriet damit, daß er mindestens eine Tafel Schokolade im
Bett hatte.
Aber Tarzan nahm davon keine
Notiz.
Leise trat er auf den Flur.
Eine Minute später war er auf dem Speicher. Auf einem Balken in der hintersten
Ecke lag das Seil. Es war zusammengerollt, mit Knoten versehen und hatte eine
solide Schlaufe zum Festhaken.
Der Ausstieg war
Weitere Kostenlose Bücher