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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Wäre
hier mal ordentlich gefegt worden, hätte ich’s hinter der Kiste bequemer
gehabt.
    Er trat zu dem geöffneten
Fenster, um hinauszuklettern. Im selben Augenblick klirrte oben das Gitter, von
dem der Fensterschacht bedeckt wurde.
    „Komm her, Susi!“ flüsterte
eine Stimme. „Hier stehen wir trocken.“
     
     
     

9.
Das Liebespaar auf dem Gitter
     
    Was war das nun wieder? Tarzan
spitzte die Ohren. Wieder klirrte das Gitter — ungefähr so, als stelle sich
jemand darauf. Susi? Oder der Mann? Überhaupt: Was wollten die hier? Um trocken
zu stehen, könnten sie sich sonstwohin scheren, dachte Tarzan. Wer wird denn
Angst haben vor so’n bißchen Regen.
    Leise stieg er auf die
Vino-Kiste und schob den Kopf in den Schacht.
    Als er nach oben sah, sah er
die beiden Gestalten. Ohne das Gitter wären sie ihm auf den Kopf gefallen. Er sah
gegen ihre Schuhsohlen, konnte aber schemenhafte Umrisse vor dem grau
schimmernden Nachthimmel erkennen: Ein Mädchen, vermutlich, und ein junger
Mann.
    Sie standen sehr dicht
beieinander.
    „Ich... ich friere“, flüsterte
Susi. Sie hatte eine etwas piepsige Stimme. Tarzan überlegte, wie alt Susi wohl
war. 17 oder 18 bestimmt.
    „Ich wärme dich“, sagte der
junge Mann.
    Er schlang beide Arme um sie.
    „Aber... bitte, nicht so derb,
Wilfried“, wehrte sie sich.
    Wilfried brummelte was. Dann steckten
beide die Köpfe zusammen. Vermutlich küßten sie sich. Den Abschluß bildete ein
schmatzendes Geräusch, und beide waren ziemlich außer Atem.
    Tarzan verdrehte die Augen.
Geht nach Hause! dachte er. Oder küßt euch sonstwo! Zum Teufel, haut ab! Ihr
steht auf meinem Ausstieg. Gibt’s denn für euch keinen besseren Platz?
    Aber Wilfried und Susi fanden
den Platz großartig. Keinen Fußbreit rührten sie sich von der Stelle.
Stattdessen ging das Geküsse weiter, und Wilfried versicherte seiner Freundin,
wie großartig sie sei, daß sie mindestens ein Jahr miteinander gehen würden und
er für keine andere mehr Augen hätte.
    „Mir geht es genau so“,
erwiderte Susi. Und dann: „Aber du mußt dich mal wieder rasieren. Du kratzt.“
    „Ja“, sagte Wilfried. „Ich habe
unglaublich starken Bartwuchs. Tut mir leid, daß ich kratze.“
    Tarzan sah einen
Hoffnungsschimmer. Wenn er kratzt, küßt sie ihn nicht mehr, dachte er. Aber
seine Hoffnung wurde getäuscht. Susi riskierte einen mißhandelten Teint und
ließ sich wieder in die Arme nehmen.

    O verflucht! dachte Tarzan.
Stundenlang kann das noch gehen. Und ich hier! Und Karl an der Einfahrt.
Sicherlich hat er sich inzwischen die Lunge aus der Kehle gehustet, um mich zu
warnen. Elender Mist! Wie kriege ich die beiden weg? Indem ich sie
runterschmeiße?
    Aber er entschied sich für
einen anderen Weg.
    Leise begann er zu knurren,
dumpf, tief aus der Brust heraus und mit geschlossenem Mund. Es klang
schauerlich. Nach zwei, höchstens drei Sekunden hörte er auf.
    Über ihm fuhren die beiden
auseinander.
    „Was... was... war das?“
wisperte Susi.
    „Weiß nicht.“
    „Hast... du’s gehört?“
    „Bin ja nicht taub“, war die unfreundliche
Antwort. Den Inhalt seiner Liebesschwüre nahm Wilfried offenbar nicht so ernst.
    „Ich... dachte, dein Magen…“
    „So knurrt mein Magen nicht“,
erwiderte er leise. „Das klang wie ein Hund. Siehst du einen?“
    „Wie soll ich denn in der
Dunkelheit was sehen!“
    „Jedenfalls ist die Hundehütte
leer. Mario sagte doch, daß er seinen Lupo verkauft hat.“
    Eine Weile schwiegen sie.
    „Wahrscheinlich haben wir uns
getäuscht“, meinte Wilfried und zog das Mädchen wieder an sich.
    Tarzan wartete den nächsten Kuß
ab.
    „rrrrrrrhhhhhhh!“ kam es dumpf
aus seiner Kehle.
    „Da!“ piepste Susi. „Wieder!
Ganz dicht bei uns. Ich glaube, aus dem Schacht... Wilfried... das... das...
ist mir aber unheimlich.“
    „Un... Unsinn!“ meinte er
heldenmütig. Aber seine Flüsterstimme wackelte. „In dem Schacht kann doch kein
Hund...“
    Weiter kam er nicht.
    „RRRRRRRHHHHHHH!“ Tarzans
Knurren schwoll an, als ginge eine Bulldogge in höchster Wut zum Angriff über.
Gleichzeitig schlug er mit der Faust gegen das Gitter — und nocheinmal, daß es
klirrte.
    „Eine Bestie!“ kreischte Susi.
„Hilfe, eine Bestie!“ Senkrecht hüpfte sie in die Höhe. Gleichzeitig riß sich
sich los. Dann sprang sie vom Gitter. Laut klapperten ihre Absätze auf dem
gepflasterten Boden.
    „Susi!“ rief Wilfried mit
halbwegs gedämpfter Stimme, während er ihr eilig folgte. Sicherlich war

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