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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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war das? Und warum führte sie ihn so komisch?
    Sie hatte seinen Arm genommen
und geleitete ihn, als könnte er allein nicht den Weg finden.
    Frau Krause blieb auf der
Türschwelle stehen und sah ihnen nach.
    Aber die beiden drehten sich
nicht um. Auch nicht am Gartentor. Frau Krause trat dann zurück und schloß die
Tür.
    Raimondo, der Seher, war einen
zweiten Blick wert.
    Eine ganz andere Vorstellung
hatte sich Tarzan von ihm gemacht. Einen gespenstischen Typ mit hypnotischen
Augen und geisterblasser Haut hatte er erwartet. Aber Otto Biersack — wie
Raimondo ja in Wirklichkeit hieß — sah eher wie ein chinesischer Seeräuber aus.
    Er war groß und gewachsen wie
ein Baum, noch verhältnismäßig jung, hatte aber einen völlig kahlen Schädel.
Freilich — wie Tarzan gleich vermutete — nicht durch Haarausfall, sondern weil
er sich wie Yul Brunner täglich den Kopf rasierte. Aus dem Gesicht ragte die
gekrümmte Nase wie eine Sichel. Kohlschwarze Brauen bildeten gerade Striche.
Und die Augen — unglaublich! — wirkten im Laternenlicht wie zugefrorene Tümpel:
ganz hell, fast weiß. Ein Mongolenbart umschloß als dünner schwarzer Strich den
Mund wie ein umgekehrtes U. Bekleidet war Raimondo mit schwarzer Hose und
schwarzem Kasack, einer saloppen Bluse, die man über der Hose trägt.
    Was am rechten Ohrläppchen
funkelte, schien tatsächlich ein Ohrring zu sein.

    Piraten-Look! dachte Tarzan.
Wahrscheinlich sind seine Kunden davon beeindruckt.
    Von der jungen Frau wurde er
zum Wagen geführt. Sie ließ ihn einsteigen — auf den Beifahrersitz.
    Sie trug die gleiche Kleidung
wie er. Jetzt setzte sie sich hinters Lenkrad.
    Auf ihr Gesicht hatte Tarzan
nicht geachtet, und jetzt war es zu spät. Aber daß ihr Haar silberblond und
ganz kurzgeschnitten war, konnte er durch die Windschutzscheibe sehen. Es
leuchtete.
    Der Wagen fuhr ab.
    Tarzan merkte sich das
Kennzeichen.
    Die Lampe über der Haustür
wurde ausgeschaltet, flammte aber gleich wieder auf. Nochmals öffnete sich die
Tür.
    Suzanne Hivers, das
Au-pair-Mädchen aus Paris, kam ins Freie.
    Sie war in Jeans und Pullover.
Aber ausgehen wollte sie bestimmt nicht mehr. Sie hielt eine Zigarette in der
Hand und rauchte andächtig. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie vor
die Tür trat; denn die Krauses haßten es als Nichtraucher, wenn man ihnen die
Räume vollqualmte.
    „He, Suzanne!“ rief Tarzan
leise.
     
     
     

10.
Suzanne, die Pariserin
     
    Sie hob sofort den Kopf und
blickte herüber. Aber da Tarzan im Dunkeln stand, sah sie ihn nicht.
    „Ich bin’s“, rief er und schob
sein Rad zur Gartenpforte. Dort stand er im Schein der beiden Laternen.
    „Ah, mon ami, der Tarzan
peeersööönlisch“, zwitscherte sie mit ihrer französischen Aussprache.
    Sie kam heran, hielt die
Zigarette im Mundwinkel und stemmte die Hände in die Hüften.
    „Müsseeen kleineee Jungeeen um
diese Zeit nicht ins Bettt?“
    „Hohohoh!“ meinte Tarzan. „Wenn
ich’s richtig sehe, überrage ich dich um Haupteslänge. Sooo petit (klein) ist
der garçon (Junge) also gar nicht. Aber einem Mädchen, das erst 16 ist und wie
ein Fabrikschlot qualmt, gehört der Hintern versohlt.“
    „Was ist Fabrikschlot?“ fragte
sie.
    Grinsend erklärte er es.
    Suzanne war eine kesse Nudel,
doch körperlich nur eine halbe Portion: Höchstens 160 cm groß und bestimmt
keinen Zentner schwer. Aber hübsch! Sie hatte kurzgeschnittenes, schwarzes
Haar. Es fiel raffiniert in die Stirn, was einen verruchten Eindruck hervorrief
— zumal sie auch sonst sehr kokett war und mit Augenaufschlägen nur so um sich
warf. Ihre dunklen Augen sprühten. Geschminkt war sie leider sehr. Und — soweit
Tarzan das beurteilen konnte — immer nach dem neusten Chic gekleidet. Ihr Vater
war in Paris ein bekannter Rechtsanwalt. Ihre Mutter besaß ein Weingut in der
Champagne, jener französischen Landschaft, wo die berühmten Weine für die
Champagnergewinnung wachsen.
    „Es ischt alles sehr traurig“,
sagte sie und schnippte ihren Zigarettenstummel auf den Boden, wo er sich in
Funken auflöste und erlosch.
    „Du meinst das mit Volker?“
    „Natürlisch! Oder ischt noch
wer entführt?“
    „Isch weiß dieses nischt“,
machte Tarzan sie nach.
    „Du bist blöd“, sagte sie — in
fast einwandfreiem Hochdeutsch.
    „Klar.“
    „Du verdirbst mir meine Schau“,
sie zischte das S nur noch ganz schwach — höchstens wie jemand, der lispelt.
„Schließlich bin ich aus Paris.“
    „Wir alle bewundern

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