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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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ein
Flurfenster. Daneben sprang die Mauer vom Nebenhaus weit vor. Im Winkel rankte
sich wilder Wein — bis herauf zum zweiten Stock. An einigen Stellen hatte
Hausmeister Mandl feste Haken in die Mauer getrieben. Sie hielten das
Holzgitter, das die Weinreben stützen sollte.
    Am obersten Haken machte Tarzan
das Seil fest. Er kletterte hinaus auf den Sims, zog das Fenster zu — dessen
Rahmen etwas verquollen war und klemmte —, prüfte mit kräftigem Rucken die
Festigkeit des Seils und turnte dann hinunter. Für ihn war das ein Klacks.

    Niemand hielt sich im Hof auf.
Drüben beim Pauker-Silo waren zwar die meisten Fenster erleuchtet. Aber mit
Spaziergängern brauchte Tarzan nicht zu rechnen. Bei diesem Wetter blieb jeder
gern im Haus.
    Anfangs hielt er sich dicht an
der Wand. Hier war es dunkel. Dann lief er zum Park, folgte den geteerten
Fußwegen und war bald hinter den herbstkahlen Bäumen verschwunden. Als er die
Rückseite des Schulgeländes erreichte, stieg er über die Mauer.
    Für diese Nacht hatte er sein
Rennrad nicht in den Fahrradkeller gebracht. Den schloß Mandl jeden Abend ab,
und Tarzan hätte zur Stadt laufen müssen. Das Rad war hinter einem Busch
versteckt, zusätzlich noch mit dem Kabelschloß an einen jungen Ahornbaum
gekettet.
    Tarzan radelte los, erst den
Feldweg entlang, dann in Richtung Straße. Dort mußte er vorsichtig sein. Es war
immerhin möglich, daß er einem Lehrer begegnete, der mit seinem Wagen aus der
Stadt kam.
    Der Wind blies von vorn. Wie
Hagelkörner trieb es dem Jungen den Regen ins Gesicht. Er kniff die Augen zu
Schlitzen zusammen. In der Dunkelheit sah er ohnehin nicht viel. Der Regen
durchnäßte seine Jeans. Sie klebten an den Schenkeln, und die Hände wurden
eiskalt. Aber das störte ihn nicht. Gelobt sei, was hart macht! war sein Motto.
    Auf dem kahlen Feld links
flogen Raben auf. In der Dunkelheit wirkten sie doppelt so groß. In Gedanken
war Tarzan bereits auf dem Hof der TRATTORIA. Es würde nicht einfach werden;
aber um dem armen Volker zu helfen, war kein Einsatz zu groß.
    Ohne jemandem zu begegnen,
erreichte er die ersten Häuser der Stadt. Hier hatte der Wind keine Kraft mehr.
Tarzan radelte zur Hauptpost, warf seinen Brief ein und fuhr dann weiter durch
erleuchtete Straßen, aber sie waren stiller als sonst. Bevor er die Sedanstraße
erreichte, lief ihm eine schwarze Katze über den Weg — von rechts. Innerlich
wäre er beinahe zusammengezuckt. Aber dann rief er sich zur Ordnung und dachte:
Spinn’ nicht! Was kann die Katze dafür, daß manche Leute abergläubisch sind.
Mich stört’s kein bißchen. Ich würde erledigen, was ich vorhabe, selbst wenn
heute Freitag, der 13. wäre.
    In der Sedanstraße rollte er
mit gerecktem Kopf an der TRATTORIA vorbei. Sie hatte geöffnet. Das Restaurant
war erleuchtet. Er konnte hineinsehen und zählte ungefähr 20 Gäste, zum Teil
Italiener. Aber nicht nur. An der Musikbox hatte jemand YES, SIR, I CAN BOOGIE
gedrückt; und Tarzan fiel ein, daß das vor kurzem noch Gabys Lieblingsplatte
gewesen war. Jetzt summte sie meistens einen anderen Hit.
    Er fuhr bis zu der Stelle, wo
sie nachmittags zu viert gestanden hatten, als sie Lupo stehlen wollten.
    Schräg daneben war ein dunkler
Hauseingang.
    Dort bewegte sich etwas.
    „Pst!“ machte eine Stimme.
    Tarzan erstarrte mitten in der Bewegung.
Er hatte sich vom Rad geschwungen, aber den linken Fuß noch auf dem Pedal.
    „Pst!“ zischelte es wieder.
    „Was ist denn los?“ fragte
Tarzan ärgerlich. „Störe ich?“
    Unterdrücktes Lachen klang auf.
Es gluckste so komisch — verdammt noch mal! Das konnte doch...
    „Karl?“ fragte Tarzan.
    „Wer denn sonst?“, antwortete
Karl, der Computer, und trat aus der Dunkelheit.
    Tarzan blieb die Spucke weg.
„Was... was machst du denn hier?“
    „Ich warte auf dich. Schon
seit’ner halben Stunde. Oder denkst du vielleicht, ich lasse dich bei so einer
Sache allein.“
    Karl trug fast die gleiche
Regenjacke wie Tarzan und hatte seine rot-weiße Skimütze auf. Offenbar fror er
erbärmlich, denn er trat von einem Fuß auf den anderen und rieb sich die Hände.
    Für einen Augenblick wußte Tarzan
nicht, was er sagen sollte. Die Treue des Freundes war toll. Andererseits
wollte er das riskante Unternehmen allein durchführen und keinen seiner Freunde
hineinziehen.
    „Wissen deine Eltern, daß
du...“
    „Um Himmels willen! Sie denken,
ich schlafe. Sie sind bei Bekannten. Vor Mitternacht kommen sie nicht zurück.
Und bis dahin bin

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