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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Wieder zündete er ein
Streichholz an. Dabei fiel sein Blick auf das erste Fenster. Daß sich das nicht
öffnen ließ, war klar: Ein hohes Regal stand davor und ragte bis unter die
Decke. In dem Regal lagerten große Dosen mit Früchten.
    Tarzan sah sich um und achtete
nicht auf das Streichholz. Als die Flamme seinen Daumen verbrannte, ließ er es
fallen, fluchte leise und pustete auf die schmerzende Haut. Dann tappte er zur
nächsten Tür. Erst horchte er an ihr. Aber dahinter war alles still. Er drückte
auf die Klinke. Die Tür ließ sich öffnen. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Es
roch noch modriger als auf der Kellertreppe.
    „Volker!“ wisperte er leise.
    Aber niemand antwortete.
    Tarzan trat in den fensterlosen
Raum, drückte die Tür hinter sich zu und tastete nach dem Lichtschalter.
    Eine nackte Glasbirne unter der
Decke flammte auf. Das spärliche Licht fiel auf zwei riesige Kühlschränke. Und
auf eine fette Spinne, die auf der gekalkten Wand saß. Keine Spur von Volker.
Kein verdächtiges Matratzenlager. Nur Krimskrams, der darauf wartete, daß er
endlich weggeworfen wurde.
    Hier endete der Keller. Einen
weiteren Raum gab es nicht.
    Eine schöne Pleite! dachte
Tarzan. Vielleicht irren wir uns, und Frasketti hat mit der Sache überhaupt
nichts zu tun. Ist ja schließlich nur ein Verdacht. Oder hat er Volker woanders
versteckt? Bei Komplizen?
    Tarzan löschte das Licht und
trat in den anderen Raum zurück. Als er die Tür hinter sich zuzog, erstarrte er
fast.
    Im Hof war Licht. Durch das
geöffnete Fenster fiel es in den Keller. Jemand kam die Kellertreppe herunter.
Mit schweren Schritten — also ein Mann. In diesem Moment war er bereits an der
Tür. Tarzan hörte, wie der Schlüssel ins Schloß fuhr.
    Durchs Fenster hinaus?
    Unmöglich.
    Buchstäblich um
Sekundenbruchteile ging es jetzt.
    Ein Versteck? Wo? Zurück in den
anderen Raum? Da war gar keine Möglichkeit.
    Im letzten Augenblick huschte
er hinter eine hüfthohe Kiste. Sie stand in der Ecke. Viel Platz war nicht
dahinter. Nur ein gewandter Junge wie Tarzan konnte sich in diese Enge
quetschen. Aber die Füße guckten seitlich hervor.
    Jetzt wurde die Tür geöffnet.
Jemand machte Licht. Tarzan hielt die Luft an. Zentimeter um Zentimeter zog er
die Füße an sich, bis er mit dem Kopf buchstäblich zwischen seinen Knien war.
    Schlangenmensch! fuhr es ihm
durchs Hirn. Au verflucht! Worauf sitze ich hier? Auf Nägeln? Es piekte, daß er
sich wie ein Fakir vorkam.
    Die Schritte näherten sich.
Frasketti? Natürlich! Wer sonst!
    Etwa drei Meter entfernt blieb
er stehen. Tarzan sah seinen Schatten an der Wand. Es war Frasketti. Er summte
leise — und unmelodisch, während er Flaschen aus einem Regal nahm. Sie wurden
offenbar in einen Korb geschichtet, jedenfalls klang es so. Sie klirrten
gegeneinander. Dann rülpste der Italiener, und Tarzan kniff angeekelt die
Nasenflügel ein. Ziemlich genau konnte er riechen, was Frasketti zuletzt
gegessen hatte: Jedenfalls war es was mit viel Olivenöl und Knoblauch-Gewürz
gewesen.

    Staub — oder was immer es sein
mochte — drang in Tarzans Nase.
    Um Himmels willen! Ein
furchtbares Bedürfnis zu niesen kam in ihm auf.
    Nein, nein, nein! dachte
Tarzan, während ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Ich muß nicht niesen! Ich
bin nicht erkältet! Hier gibt’s keinen Staub! Und geniest habe ich während der
letzten zwei Wochen nicht mehr. Zum Kuckuck! Kann dieser Kerl nicht endlich
verschwinden! Wieviele Flaschen holt der denn noch?
    Noch zwei nahm Frasketti aus
dem Regal. Die eine legte er zurück, die andere wurde so hart in den Korb
befördert, daß es mächtig klirrte, fast wie an einem Polterabend.
    Dann verließ der TRATTORIA-Wirt
den Keller, schaltete das Licht aus, schloß die Tür ab, schleppte — jetzt ohne
zu summen — den Korb die Treppe hinauf und war nicht mehr zu hören. Auf dem Hof
wurde es wieder dunkel. Eine Tür fiel zu.
    Tarzan nieste.
    Es klang, als werde eine
Haubitze abgefeuert. Dann stemmte er sich hoch, sortierte seine Knochen, nieste
abermals, aber jetzt ins Taschentuch, und hörte, wie ihm das Blut in den Ohren
toste.
    Nochmal gutgegangen! Aber
knapp, ganz knapp.
    Ein bißchen wackelten ihm jetzt
die Knie. Also setzte er sich erstmal auf die Kiste und atmete tief durch, wie
er es bei seinem Judolehrer gelernt hatte. Das beruhigt und gibt Kraft.
    Behutsam klopfte er sich den
Hosenboden ab. Der war voller Flaschensplitter. Darauf also hatte er gesessen.
    Schlamperei! dachte er.

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