Der blinde Hellseher
Karl. „Das Medium nimmt Kontakt auf zu dem Geist. Er kommt und
rückt zum Beispiel am Tisch. Oder er klopft. Oder er materialisiert sich. Das
heißt, die Erscheinung wird stofflich, zum Bild. Auf gut Deutsch: Plötzlich
steht das Gespenst vor dir.“
„Mit dem Kopf unterm Arm“,
sagte Tarzan. „Und der Kette um den Skelettfuß. Das ist der gebräuchliche Typ.
Sozusagen das Standard-Modell. Leider trifft man es immer erst ab Mitternacht.
Vorzugsweise auf Friedhöfen und in Burgverließen.“
Alle lachten.
„Wenn du heute abend so redest,
fliegst du gleich raus“, meinte Gaby.
Karl, der unbedingt noch was
loswerden wollte von seinem gespeicherten Wissen, sagte: „Hellsehen und Gedankenlesen
gehören mehr zur Parapsychologie. Das ist sozusagen der wissenschaftliche Zweig
vom Okkultismus. Parapsychologie kann man neuerdings sogar an der Uni
studieren. Nicht an jeder, aber von einer weiß ich’s.“
„Ist nicht mein Berufsziel“,
meinte Tarzan grinsend. „Ich bleibe beim Diplom-Ingenieur. Was, Karl, ist denn
an der Sache nun dran?“
Aber damit war sogar der
Computer überfragt. Karl zuckte die Achseln. „Ich kann mir schon vorstellen,
daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die unsere Wissenschaften weder
erklären noch einordnen können. Über Parapsychologie wurden inzwischen
irrsinnig viele Bücher veröffentlicht, und seit etwa 100 Jahren befaßt sich die
Wissenschaft mit all den unerklärlichen Erscheinungen. Natürlich weiß man heute
mehr über manche Dinge. Was früher als Spuk galt, ist zwar auch heute noch
nicht mit unseren fünf Sinnen zu erfassen. Aber es wird wenigstens so erklärt,
daß man vor Angst nicht zu klappern braucht.“
„Kannst du ein Beispiel
nennen?“ fragte Gaby.
Karl nickte. „Nimm mal das
Medium. Das bedeutet soviel wie Vermittler. Wie ich schon sagte, zwischen den
Geistern Verstorbener und den Lebenden. Auf einer spiritistischen Sitzung
spielt sich das so ab: Das Medium fällt in Trance. Plötzlich beginnt es mit
völlig fremder Stimme zu reden. Und erzählt, hier melde sich der Verstorbene
Sowieso, der jetzt aus dem Jenseits Nachrichten übermittelt. Dabei handelt es
sich immer um den verstorbenen Verwandten, Bekannten oder Freund einer
anwesenden Person. Der Geist erzählt dann die erstaunlichsten Dinge, die das
Medium gar nicht wissen kann; und hinterher sind alle überzeugt: Da hat sich
wirklich Onkel Paul aus dem Jenseits gemeldet. Aber — dem ist nicht so.“
„Sondern?“ fragte Klößchen
gespannt.
„Tja, das ist schwer zu
erklären. Eigentlich ist es nur zu vermuten. Und irgendwie unheimlich bleibt
es. Denn es betrifft die besonderen Kräfte, die das Medium hat.“
„Nun sag’s schon!“ forderte
Gaby.
„Man erklärt sich das Verhalten
des Mediums mit Telepathie. Wörtlich heißt das Fern-Fühlen. Gemeint ist
Gedankenübertragung. Es bedeutet: Gedankliche oder seelische Vorgänge werden
von einer Person auf eine andere übertragen — ohne dabei die bekannten
Sinneswege zu benutzen. Also nicht durch Hören, Sehen, Fühlen. Schon gar nicht
durch Sprechen. Sondern einfach so, als gäbe es zwischen den beiden eine
unsichtbare Leitung.“
„Unheimlich!“ murmelte
Klößchen, wobei ungeklärt bleibt, ob er schauerlich’ oder ,toll’ meinte.
„Das Medium“, fuhr Karl fort,
„das bei so einer Séance — einer spiritistischen Sitzung — im Mittelpunkt
steht, hat diese Fähigkeit. Wenn es in Trance, in seinem hypnotischen Zustand
ist, zapft es per unsichtbarer Leitung einen der Anwesenden an. Es saugt
sozusagen seine Gedanken und Empfindungen ab — sicherlich auch solche, die in
seinem Unterbewußtsein sitzen, die ihm also im Moment gar nicht bewußt sind,
die er in dem Augenblick gar nicht denkt. Aber da er ja über Onkel Paul — wenn
wir mal dabei bleiben — Bescheid weiß, liefert er dem Medium unabsichtlich und
ungewollt Informationen über diesen Onkel Paul.“
„Dann schauspielert das Medium
also“, meinte Klößchen aufgeregt, „wenn es mit Onkel Pauls Stimme plötzlich
loslegt.“
Karl schüttelte den Kopf.
„Sicherlich — gerade auf dem Gebiet gibt es massenhaft Betrüger. Die beschaffen
sich heimlich Informationen über einen der Anwesenden; und während der Séance
ziehen sie dann ihre Schau ab. Aber ein richtiges Medium weiß nicht, was es
tut, wenn es in Trance spricht. Wahrscheinlich empfängt es die Informationen
über irgendwen — meinetwegen über Onkel Paul — durch die unsichtbare Leitung so
stark, daß es die
Weitere Kostenlose Bücher