Der blinde Hellseher
mochte.
„Jetzt kommt’s“, meinte
Klößchen.
„Du weißt, was ich sagen will?“
„Nee, woher sollte ich?“
„Ein bißchen nachgedacht — und
du wärst selbst drauf gekommen.“
„Bis jetzt verstehe ich nur
Bahnhof“, maulte Klößchen.
Tarzan zog sich die Bettdecke
bis ans Kinn. Dann verschränkte er die Arme hinterm Kopf.
„Ich finde, es ist eine logische
Kette. Wir verdächtigen Raimondo, er könnte der Kidnapper sein. Raimondo wohnt
in Stockhausen. Stockhausen bietet ideale Verstecke. Kinderleicht könnte man
Volker auf diesem alten, verfallenen Bauernhof einkerkern. Da gibt’s noch
Keller — in denen kannst du dir die Lunge aus dem Hals brüllen, und draußen
hört niemand einen Piepser.“
„Dann... dann... ich ahne
schon... Dein Entschluß... ich meine, du willst... aber wenn der dich
erwischt!“
„Wir müssen vorsichtig sein.“
„Wieso wir?“
„Na, ich nehme doch an, du
willst dabei sein, wenn wir Volker befreien. Karl macht bestimmt mit, wie ich
ihn kenne. Gaby auch, obwohl’s mir lieber wäre, wenn sie nicht mitkäme. Sowas
ist für Mädchen zu gefährlich.“
„Natürlich mache ich mit“,
sagte Klößchen. „Ich will ja nur, daß du mich vorher fragst.“
Tarzan grinste. Aber das sah
Klößchen nicht. Tarzan hatte den Kopf zum Fenster gedreht. Dort waberten
Regenschleier im Dunkel der Nacht, und immer wieder prasselten Schauer gegen
die Scheibe.
„Nur vor Amanda“, sagte Tarzan,
„müssen wir uns vorsehen. Raimondo ist blind. Wenn wir nicht gerade singend bei
seinem Bauernhaus aufkreuzen, kann er uns gar nicht bemerken.“
„Aber... sein... sein siebter
Sinn — oder wie das heißt? Sein inneres Auge, meine ich!“
„Fängst du auch an mit der Spinnerei?“
„Und wann willst du... wollen
wir hin?“
„Morgen natürlich“, sagte
Tarzan. „Morgen ist Samstag.“
„Na dann! Auf ein fröhliches
Wochenende!“ sagte Klößchen und gähnte.
Auch Tarzan war plötzlich sehr
müde. Sie löschten das Licht und waren eingeschlafen, ehe sie sich versahen.
In den Träumen dieser Nacht
hatte Tarzan allerhand auszustehen. Ununterbrochen wurde er verfolgt. Frasketti
und Raimondo trachteten ihm abwechselnd nach dem Leben. Amanda hatte sich in
eine Hexe verwandelt, der Flammen aus dem Mund züngelten, sobald sie ihre
Verwünschungen ausstieß. Das Schlimmste an den Träumen aber war, daß Tarzan —
so schnell er auch rannte — keinen Schritt vorankam. Und wenn er dann eingeholt
und gepackt wurde, versagten seine besten Judo-Griffe.
Mit brummendem Kopf wachte er
auf. Helligkeit blendete ihn durch die Lider. Er hatte das Empfinden, nur kurze
Zeit geschlafen zu haben, machte aber die Augen auf und blinzelte zur Uhr.
Fünf vor sieben! Und draußen —
nicht zu glauben! — war herrlichstes Wetter. Mit einem Schwung setzte er sich
auf.
Klößchen schnarchte. Sein
Mondgesicht lächelte. Offenbar träumte er angenehm — vielleicht von einem Berg
Schokolade, der — soviel man auch davon ißt — niemals kleiner wird.
„Sauerlich! Aufstehen!“
Klößchens Schnarchen verstummte.
Im allgemeinen braucht er lange, bis er richtig wach wurde. Aber heute war er
sofort munter.
Ohne die Augen zu öffnen oder
sich zu rühren, sagte er: „Carsten, du kannst mich mal kreuzweise!“
Tarzan lachte. Er sprang aus
dem Bett, riß das Fenster auf und beugte sich hinaus.
Kälte schlug ihm entgegen. Aber
der Himmel war wolkenlos blau, und über dem Waldrand am Horizont stand die
Sonne als messingfarbene Scheibe, strahlend und hell. Im Park war der Rasen
mindestens fingerdick von Rauhreif überzogen. Sah fast schon wie Schnee aus,
und sicherlich knirschte es ordentlich, wenn man darauf trat.
Tarzan ließ das Fenster offen.
Blitzartig riß er Klößchen die Bettdecke weg. Zusammengeknüllt warf er sie auf
den Schrank.
„Gemeinheit!“ quäkte Klößchen.
„Bei der Kälte! Ich will noch pennen.“
„Faul und gefräßig! Das paßt
zusammen. Raus mit dir, Willi! Spürst du nicht den Tatendrang in dir? Wir haben
einen tollen Tag vor uns. Heute passiert was. Los, kalt duschen! Dann bist du
frisch.“
„Ach herrjeh!“ jammerte
Klößchen. „Immer dieses sportliche Leben. Du kannst einem auf den Wecker
gehen.“
Aus Protest wollte er sich mit
dem Kopfkissen zudecken. Aber das war nun wirklich zu klein dafür. Also stand
er auf.
Da an Samstagen schulfrei ist, schlafen
die meisten Schüler länger. Tarzan, der geborene Frühaufsteher, gehörte zu den
wenigen Ausnahmen. Im
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