Der blinde Hellseher
der Hellseher die
Finger gequetscht. Raimondo schwieg. Die Augen hielt er offen — ins Nichts
gerichtet. Auf seinem Gesicht glitzerte Schweiß.
„Ich sehe nichts mehr“,
flüsterte er heiser. „Die Nebelwand wird immer dichter.“
Stumm verharrte die Runde. Aber
es kam nichts mehr. Als das augenfällig wurde, begann Kommissar Glockner leise
zu husten.
Raimondo ließ Tarzans Hand los.
Der zog sie rasch an sich. Unauffällig rieb er sie am Hosenbein ab. Er hatte
das Gefühl, sie sei schmutzig.
„Laßt uns die Séance beenden,
Freunde“, sagte Raimondo. „Wir müssen warten, bis die Zeichen günstiger stehen.
Noch sind die Mächte der Finsternis stärker als wir.“
Ein Aufatmen lief durch die
Runde. Man bewegte sich. Stoff raschelte. Es wurde gehüstelt. Herr Berger
schneuzte sich umständlich die Nase. Und Frau Krause trocknete ihre Tränen.
„Ich danke Ihnen, Meister“,
sagte sie leise. „Und Ihnen, Amanda.“
Beide nickten gemessen.
Alle gingen ins Kaminzimmer
zurück. Die Bergers, Kleinschmidts und Krauses redeten durcheinander. Worte wie
„Na, Gott sei Dank! Wenigstens die Gewißheit, daß er lebt...“ fielen; und
Tarzan stand sprachlos dabei und verstand nicht, wie Menschen so einfältig sein
konnten.
„Wir verabschieden uns“, sagte
Herr Glockner leise zu ihm. Tarzan war das recht. Nach dieser enttäuschenden
Vorstellung kam bestimmt nichts mehr, was ein Hierbleiben lohnte.
Raimondo und Amanda standen mit
ihren Gläsern beim Kamin, steif wie Ölgötzen und stumm. Mit keiner Silbe
beteiligten sie sich am Gespräch.
Tarzan bedankte sich für die
Einladung, nickte allen freundlich zu und wurde von Suzanne zur Haustür gebracht,
wo Herr Glockner schon wartete. Leise unterhielt er sich mit Frau Krause.
Suzanne blinzelte Tarzan zu. In
Worten hieß das: Nun hast du den Betrug mit eigenen Augen angesehen. Ein
lächerlicher Unsinn, aber wer unbedingt daran glauben will, der tut’s eben.
Als Tarzan und Herr Glockner
das Haus verließen, regnete es Bindfäden. Tarzan knöpfte seinen Regenmantel bis
obenhin zu und stülpte sich die Kapuze auf.
„Ich fahr’ dich nach Hause“,
sagte der Kommissar. „Dein Rad legen wir in den Wagen.“
„Das ist riesig nett, aber
wirklich nicht nötig und...“
„Na, hör mal! Glaubst du, ich
lasse es zu, daß sich mein tüchtiger Mitarbeiter bei diesem Wetter eine
Erkältung holt!“
Sie lachten. In einen normalen
Kofferraum hätte Tarzans Rennrad nicht reingepaßt. Aber Herr Glockner fuhr
einen Kombi, und auf der gepolsterten Ladefläche war genug Platz. Die ersten
Minuten fuhren sie schweigend. Lichtpeitschen huschten vorbei. In den Gärten
zauste der Wind an den Bäumen. Die Zweige schienen zu winken.
„Nun, Tarzan, was hältst du von
der Séance?“
„Wenn ich schauspielerisches
Talent hätte, könnte ich das auch.“
„Alles Humbug, was?“
„Ich finde, Betrug. Denn dieser
Kerl nimmt Geld dafür. Gesagt hat er über Volker überhaupt nichts. Den Unsinn
von der Nebelwand und den Mächten der Finsternis kann sich jeder ausdenken.“
„Stimmt“, sagte Kommissar
Glockner. „Aber leider sind viele Leute für diesen Hokuspokus anfällig. Ich
habe mich eingehend mit Frau Krause unterhalten und den Eindruck gewonnen: Den
Unsinn von der Wiedergeburt hat Raimondo ihr eingeredet. Für Frau Krause ist
der Gedanke schick, schon mal gelebt zu haben — als Editha Eleonora von
Brabant. Raimondo füttert sie vermutlich mit Einzelheiten über ihr früheres
Leben, und sie bildet sich mittlerweile ein, es wäre ihre Erinnerung.“
„Kann die Polizei dagegen
vorgehen?“
„Kaum. Es müßte dann schon eine
Anzeige vorliegen und ein richtiger Fall von Betrug.“
„Glauben Sie“, fragte Tarzan
vorsichtig, „daß Raimondo und Amanda etwas mit Volkers Entführung zu tun haben?“
Der Kommissar zögerte mit
seiner Antwort. „Offen gesagt: Ich weiß es nicht. Gefühle und Vermutungen
nützen mir nichts. Daß ich die beiden nicht leiden kann, ist eine Sache. Ob sie
kriminell sind, eine andere.“
„Stimmt es, daß er Otto
Biersack heißt?“
„Das konnten wir dank deines
Hinweises bereits überprüfen. Er heißt wirklich so. Vor einem Jahr sind er und
Amanda, die übrigens Klara Bichler heißt, aus Wien hierher gekommen. Die beiden
sind keine Österreicher, haben aber jahrelang in Wien gewohnt. Polizeibekannt
wurden sie dort nicht. Jetzt leben sie auf einem halb verfallenen Bauernhof in
Stockhausen.“
„Also schon fast in der Stadt.“
„Naja, am
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