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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Waschsaal war er der erste. Unter der eiskalten Dusche
blieb er, bis er vor Kälte schnatterte. Aber als er sich kräftig abrubbelte,
wurde er rasch wieder warm.
    Klößchen duschte nur lau.
Freilich jaulte und prustete er, als stünde er unter eisiger Flut. Aber den
Trick hatte Tarzan schon lange durchschaut. Lautlos schlich er heran, griff
durch den Duschvorhang und drehte den Warmwasserhahn zu.
    „Huuuuuch!“ brüllte Klößchen.
„Was... was...“ Dann sprang er bibbernd hervor. „Gemeinheit! Soll ich mir den
Tod holen?“

    „Abhärten sollst du dich!“
    „Da kann ich ja gleich im
Eismeer baden.“
    Ab halb acht wurde im
Speisesaal Frühstück ausgegeben. Aber an eine feste Zeit war man nicht
gebunden. Wer wollte, der holte sich was. Klößchen wollte natürlich. Vier
Semmeln und eine Kanne Kakao ließ er sich nicht entgehen. Tarzan hielt sich an
heiße Milch und Vollkornbrot. Kurz nach acht holten sie ihre Räder und fuhren
zur Stadt. Zuerst zu Gaby.
    Frau Glockner hatte ihr
Lebensmittelgeschäft schon geöffnet. Aber im Moment war kein Kunde da.
Freundlich wie immer begrüßte sie die Jungs. Ja, Gaby sei schon auf. Aber sie
hätte sich die Haare gewaschen; und die wären noch nicht ganz trocken.
    „Wenn sie föhnt, geht’s vielleicht
schneller“, meinte Tarzan, dem die Ungeduld unter der Haut kribbelte.
    „Habt ihr denn was bestimmtes
vor?“ erkundigte sich Frau Glockner.
    „Einen kleinen Ausflug nach
Stockhausen“, antwortete Tarzan wahrheitsgemäß.
    „Schön. Aber davon hat Gaby gar
nichts gesagt.“
    „Sie weiß es noch nicht“,
lachte er.
    Gaby war doch schon fertig und
kam gleich runter. Mit Oskar, der an Tarzan minutenlang wie ein Gummiball
hochsprang.
    Gaby hörte sich an, was Tarzan
am Abend zuvor erlebt und was er jetzt vorhatte. Sie wurde ein bißchen blaß,
dann vor Aufregung rot — und dann noch röter vor Zorn, als Tarzan fragte, ob
sie bei dem nicht ungefährlichen Unternehmer vielleicht lieber zu Hause bleiben
wolle.
    „Kommt ja gar nicht in Frage.
Selbstverständlich bin ich dabei. Aber wie hast du dir die Sache eigentlich
vorgestellt?“
    „Das kann man erst an Ort und
Stelle entscheiden. Auf jeden Fall will ich in den alten Ställen nachsehen, in
der Scheune und vor allem — wenn ich reinkomme — im Keller.“
    „Und wie willst du reinkommen?“
    „Bei der TRATTORIA hat’s auch
geklappt.“
    „Weil ein Fenster offen war“,
sagte Gaby.
    „Irgendwie komme ich auch in
Raimondos Drachenhöhle rein.“
    „Gut, ich hole nur meine Jacke.
Oskar nehmen wir mit, ja?“
    Dagegen hatte niemand was
einzuwenden. Wenig später fuhren sie los. Oskar lief neben Gabys Rad und war
selig, daß er mit durfte. Da der Wind von vorn blies, flatterten seine langen
Schlappohren. Manchmal standen sie waagerecht in der Luft. Das sah lustig aus.
    Die Kinder machten einen
kleinen Umweg, um Karl abzuholen. Der saß noch beim Frühstück, beeilte sich
aber. Worum es ging, erfuhr er erst, als er — gegen den Wind gestemmt — neben
Tarzan radelte.
    „Das mußte ja kommen“, meinte
er. „Frasketti war Fehlanzeige. Damit rückt Raimondo auf. Der blinde Hellseher
als Hauptverdächtiger. Hoffentlich haben sich nicht die Mächte der Finsternis
in Stockhausen versammelt.“
    „Das merken wir sofort“, sagte
Tarzan in den scharfen Wind. „Wenn eine gelbe Schwefelwolke über dem Dorf
hängt, sind die Vertreter der Hölle schon da.“
    „Und wenn es eine schwarze
Wolke ist?“ rief Klößchen.
    „Dann gibt’s Regen“, sagte
Tarzan, und alle lachten.
    Sie fuhren quer durch die
Stadt. Es war ein ziemlich weiter Weg. Die vielen Kreuzungen mit den Ampeln,
die ewig auf Rot standen, hielten auf. Radwege waren in der Innenstadt leider
gar nicht vorhanden; und die Kinder mußten gut achtgeben. Auf den belebten
Straßen rollte Wagen um Wagen. Viele fuhren sehr dicht an den Radlern vorbei.
Den vorgeschriebenen Mindestabstand von einem Meter hielten nur wenige ein.
    Immer wieder kommt es dadurch
zu Unfällen. Denn wie leicht kippt ein Radfahrer mal zur Seite. Besonders
gefährlich ist es natürlich, wenn man neben sich einen Hund führt. Deshalb
hatte Tarzan den Cocker-Spaniel übernommen. Er ließ ihn auf der Bordsteinseite
laufen und fuhr scharf rechts.
    Als sie Stockhausen in der
Ferne sahen, war es fast halb zehn. Es ist eben doch ein Unterschied, ob man
mit der U-Bahn fährt oder strampelt.
    Schnurgerade schnitt die neu
erbaute Schnellstraße durch die Felder. Aber sie wurde von einem

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