Der blinde Hellseher
Sie berührt ja immer noch seinen Arm, hat ihn sicherlich ein bißchen
gekniffen; und schon wußte er, was los ist. Aber mit solchen Taschenspielertricks
legt er mich nicht rein.
Unauffällig sah Tarzan den
Kommissar an und merkte: Der dachte das gleiche.
14.
Die Mächte der Finsternis
Die Stimmung blieb
niedergedrückt. Alle sprachen leise. Raimondo und sein Medium hielten sich abseits,
als wäre es unter ihrer Würde, sich zu den anderen zu gesellen.
Frau Krause drängte dann auch
bald, die Séance zu beginnen. Dafür war die Bibliothek vorbereitet.
Tarzan hatte schon einige Male hineingesehen,
aber jetzt kannte er den Raum kaum wieder. Dunkle Vorhänge verdeckten die
Regale, schwere Portièren die Fenster. Wie durch Mauern gedämpft, hörte Tarzan
das Prasseln des Regens, der jetzt einsetzte. Schauer um Schauer schlug gegen
die Scheiben. Aber das schien fern zu sein.
Ein runder Tisch aus dunklem
Holz stand in der Mitte. Stühle umgaben ihn. Auf dem Tisch blakte eine
altmodische Petroleumlampe. Das war die einzige Beleuchtung. Anfangs hatten
sich die Augen noch nicht daran gewöhnt, und man konnte kaum die Gesichter
erkennen.
Alle traten leise auf. Die
Stille summte in den Ohren. Unwillkürlich hielt Tarzan den Atem an.
Mit stummen Gesten verteilte
Frau Krause die Plätze. Tarzan saß zwischen Kommissar Glockner und — Raimondo.
Das hatte Frau Krause
sicherlich gut gemeint, aber Tarzan pochte das Herz bis in die Kehle; und für
einen Moment hatte er so kalte Finger, daß er sich über seine Befangenheit
ärgerte.
Amanda, das Medium, saß nicht
in dem Kreis. Für sie war vor einem der Fenster ein Stuhl reserviert.
Als alle saßen, wurde es noch
stiller. Von nirgendwo kam der leiseste Luftzug, dennoch wurde die Flamme in
der Petroleumlampe bewegt. Rätselhaft! dachte Tarzan.
Der Schein huschte über die
Gesichter. Alle sahen totenbleich aus wie Leichen. Als sollte die Stimmung noch
schauerlicher werden, begann draußen im Garten ein Käuzchen zu klagen.
Auch im Park der Schule war ein
Käuzchen zu Hause. Tarzan hörte es oft nachts, aber niemals war ihm das
unheimlich erschienen. Hier dagegen wirkte es wie ein Zeichen des Unheils. Man
konnte Gänsehaut kriegen, und Tarzan kriegte sie auch.
Raimondo erhob die Hand und
gebot Aufmerksamkeit. Langsam drehte er seinen Kopf zu Amanda.
Sie hatte die Füße
nebeneinander gestellt und die Knie geschlossen. Die Hände lagen auf ihren
Schenkeln, der Kopf war gesenkt. Sie schloß die Augen.
„Wir fassen uns jetzt bei den
Händen“, sagte Raimondo leise. „Wir bilden den magischen Kreis.“
Seine heisere Stimme kratzte
und schnarrte. Angenehm war sie nicht, aber auf eine seltsame Weise
eindringlich.
Jeder streckte die Hand zum
Nachbarn aus.
Kommissar Glockner hatte eine
trockne Hand mit festem Griff.
Seltsam, wie unterschiedlich
sich Hände anfühlen, dachte Tarzan, denn Raimondos Hand war kalt und irgendwie
feucht. Ein bißchen erinnerte sie an einen toten Fisch, der gerade aus dem
Kühlschrank kommt.
„Wir konzentrieren uns“,
knarrte Raimondos Stimme. „Alle Gedanken sind auf Volker Krause gerichtet.
Denkt an ihn, Freunde! Denkt mit aller Kraft!“
Sekundenlang war Stille. Tarzan
schielte zu Amanda hinüber. Sie schien schon in Trance zu sein. Ihr Gesicht
wirkte noch starrer. Unmerklich wiegte sich ihr Oberkörper hin und her. Dabei
zuckten die Lippen.
„Volker!“ sagte Raimondo jetzt
mit beschwörender Stimme. „Hörst du uns? Wir sind deine Freunde! Nimm Kontakt
zu uns auf. Melde dich!“
Plötzlich hob Amanda den Kopf.
Ihre Augen blieben geschlossen. Aber als sie den Mund öffnete, zuckte Tarzan
zusammen.
Es war Volkers Stimme — kein
Zweifel, Volkers Stimme! — , die über ihre Lippen kam.
„Mutti! Ich... ich... kann
nicht. Hilf... hilf mir, bitte!“
Für Sekunden lag ein Wimmern in
der Luft. Aber das verstummte rasch. Amandas Kopf sank auf die Brust.
Ein leises Schluchzen
unterbrach die Stille. Tarzan sah Frau Krause an. Tränen rannen über ihr
Gesicht.
„Die Nebelwand“, flüsterte
Raimondo. „Sie ist immer noch da. Die Mächte der Finsternis wehren sich. Aber
ich ahne die Richtung. Nach Westen führt der Weg. Jetzt verdünnt sich der
Nebel... Volker! Ja, es ist Volker. Er lebt. Aber... Angst lähmt ihn. Seine
Aura (Ausstrahlung) ist gefesselt. Seine Botschaft dringt nicht durch bis zu
uns. Aber... er lebt.“
Der Druck von Raimondos Fingern
verstärkte sich. Tarzan spannte die Hand an, sonst hätte ihm
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