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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Russen immer saubere Unterwäsche aus. Es bedeutet, dass man sterben wird, aber zumindest in Würde. Deswegen war er auch desertiert. Aber warum ist er bei all der gegen uns gerichteten Feuerkraft ausgerechnet zu uns gekommen? Der Wodka muss irgendwas mit dem slawischen Hirn anstellen.
    Die in Kolpino zusammengezogenen Kanonen haben begonnen, unsere Stellungen im Süden zu beschießen. Die Infanterie hat die Minenfelder vor ihren Linien in die Luft gejagt. Unsere eigene mickrige Artillerie gab sich alle Mühe, aber die Russen haben es psychologisch genau richtig gemacht … sie haben sie einfach ignoriert.
    Um fünf Uhr nachmittags ist es dunkel geworden. Die Kälte kriecht in unsere Knochen. Wir haben alle Angst, aber die Unvermeidlichkeit des Kommenden weckt auch unsere Entschlossenheit. Mit einem gewaltigen Dröhnen werden alle Panzer der Roten gleichzeitig gestartet. Die Motoren laufen die ganze Nacht, weil die Russen Angst haben, dass sie einfrieren.
    »Morgen werden die Stiere rennen«, sagt einer unserer Feldwebel. Ich mache einen Kontrollgang zu unseren Wachen. Die Kälte macht sie träge. Während ich mit den Männern plaudere, rascheln die Kiefern vor den Torfmooren, wo tausende von Soldaten durch das Unterholz schleichen, um sich für den morgigen Angriff in Position zu bringen.

    10. Februar 1943
    Nichts, was der ukrainische Deserteur uns erzählt hat, hat uns auf das vorbereitet. Um 6.45 haben die Kanonen von Kolpino das Feuer auf uns eröffnet. 1000 Artilleriegeschütze schossen gleichzeitig. Binnen Minuten war die Verwüstung so komplett wie nach einem Erdbeben. Ganze Hügelhänge lösten sich wie unter vulkanischem Druck. Die froststarren Kiefern gingen in Flammen auf. Der Schnee schmolz augenblicklich. Massiv gesicherte Stellungen in unserem Rücken verschwanden in rauchender Erde, und wir wurden von unseren hinteren Linien abgeschnitten. Das Feldtelefon ist ausgefallen, und sehen kann man in dem schwarzen, nach Torf stinkenden Qualm auch nichts. Wir haben uns unter einem Strom von Erde, Brettern, Stacheldraht, Eisklumpen und dann Körperteilen geduckt. Arme, Beine, behelmte Köpfe, halb geröstete Leiber. Das war die Eröffnungserklärung, und sie lautete: »Das überlebt ihr nicht!«
    Einige der Männer schluchzten, nicht vor Angst, sondern weil sie ihr Entsetzen nicht unterdrücken konnten. Wir warteten. Schließlich stürmten die Roten mit ihrem unvermeidlichen »Urrah!« los. Sie stürzten sich in unser Minenfeld, und nach zehn Metern lagen alle am Boden. Die nächste Welle folgte und drang weitere zehn Meter vor, bis sie gefallen war. Als die Ersten schließlich das Ende des Minenfelds erreichten, eröffneten wir das Feuer und mähten sie nieder. Leichen lagen in fünf Reihen übereinander, und sie griffen weiter an. Wir feuerten wahllos, bis die Läufe unserer Maschinengewehre in der Eiseskälte des Morgens rot glühten.
    Die Roten ließen ihre neuen KV-1-Panzer auf ihr Ziel – die Sinjawino-Höhen – zurollen. Unsere 37 Millimeter-Patronen prallten an ihrer Panzerung ab.
    Wir sind sowohl nach hinten als auch auf der linken Flanke abgeschnitten gewesen. Unser Hauptmann wurde am Arm getroffen. Die kleineren T-34-Panzer haben unsere Linien durchbrochen, gefolgt von Infanteristen, die wir niedergemäht haben. Blut strömte über ihre weißen Capes. Sie haben uns mit Mörsern und Panzerfäusten bombardiert, bis wir nicht mehr wussten, wo uns der Kopf stand. Am Ende hatten wir weder Maschinengewehre noch automatische Waffen. Jeder Russe, der sich nahe genug heranwagte, wurde geschnappt und erstochen. Es folgte weiteres Mörserfeuer. Unsere Lage war so verzweifelt, dass ich am liebsten laut gelacht hätte. Der Hauptmann wurde am Bein getroffen. Er hüpfte auf einem Bein zwischen unseren Reihen herum und feuerte uns an, nicht nachzugeben. »Arriba España! Viva la muerte!« Wir waren tumb vom Schlachtengetöse, unsere Gesichter bis auf die weißen Augenhöhlen geschwärzt. Wir schliefen im Stehen. Der Hauptmann setzte zu einer letzten anfeuernden Rede an: »Spanien ist stolz auf euch. Ich bin stolz auf euch, es ist mir eine große Ehre, euch in der heutigen Schlacht befehligt zu haben …« An dieser Stelle wurde seine Rede von 20 russischen Gewehrläufen unterbrochen, die in unseren Unterstand zeigten.

    12. Februar 1943, Sablino
    Die erste Frage der Roten lautete: »Wer hat eine Uhr?« Unseren beiden verbliebenen Offizieren wurden die Uhren abgenommen. Vier unserer Verwundeten wurden an Ort und

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