Der Blinde von Sevilla
Der Anruf, der sie so sanft berührte, Worte wie Federn am Ohr eines Kindes, der Anruf, der sie bewegte und aufwühlte und ganz weich werden ließ. Eine Frau, die sich vor beweglichen Schatten fürchtete, so gänzlich zu verführen, das konnte nur jemandem gelungen sein, der die menschliche Natur sehr gründlich studiert hatte. Doch auf seine eigene Art war der Mörder ebenso brutal fordernd wie jeder Freier.
Der einzig interessante Schluss, der sich aus dem Bericht ziehen ließ, war, dass der Mörder mit Eloisa Gómez wohl am Samstagmorgen direkt nach der Öffnung auf den Friedhof gegangen war und sie dort ermordet hatte.
Ramírez kam mit dem Rest der Truppe um 8.30 Uhr. Die anderen wurden auf den neusten Stand der Ermittlungen gebracht; und zusätzlich erläuterten Falcón und Ramírez das Profil des Mörders, den fortan alle »Sergio« nannten. Wenn dieser Sergio das Mädchen am Samstagmorgen auf dem Friedhof erwürgt hatte, musste er in der Nacht zurückgekommen sein, um sie im Jiménez-Mausoleum zu deponieren. Also verfügte er in Sevilla sowohl über eine Unterkunft als auch über ein Transportmittel. Das elektrisierte die Truppe. Die Vorstellung, dass es ein Einheimischer war, machte die Sache irgendwie persönlich. Fernández, Baena und Serrano würden den Friedhof und seine Umgebung abklappern und Zeugen suchen, die Eloisa Gómez möglicherweise am Samstagmorgen dort gesehen hatten. Und vielleicht hatte der Mörder sein Auto in der Nähe geparkt, als er zurückgekommen war, um sich um die Leiche zu kümmern, also musste auch der Wachdienst des Industriegeländes befragt werden. Der schmale Gang an der Rückmauer des Friedhofs war wahrscheinlich Sergios Zugang gewesen.
Derweil sollte Ramírez Señora Jiménez darum bitten, die Kartons einsehen zu dürfen, die in dem Lager von Mudanzas Triana aufbewahrt wurden. Außerdem sollte sie die Sequenzen aus dem Familia-Jiménez -Video datieren, um zu sehen, ob es irgendein Muster in Sergios Filmaufnahmen gab.
Inspector Pérez lieferte die Liste der Direktoren der wichtigsten noch existierenden Baufirmen, die beim Bau des Expogeländes beteiligt gewesen waren. Falcón schickte ihn zu Mudanzas Triana, wo er die von Baena begonnene Befragung der Angestellten fortführen und herausfinden sollte, ob irgendwelche ungewöhnlichen Gestalten aufgetaucht waren, wer das Lager führte und wer Zugang dazu hatte.
Als er wieder allein war, warf Falcón einen Blick auf die Liste mit den Baufirmen und zählte 47. Er verglich sie mit Pérez’ Originalliste und stellte fest, dass seit Vollendung des Expo-Geländes nur eine Firma aufgehört hatte zu existieren: MCA Consultores S.A.
Im Register der Handelskammer schlug Falcón nach; die Firma hatte Bauherren in Fragen der Statik, Gestaltung und Materialien in stark frequentierten Gebäuden beraten. Er blätterte die Geschäftsberichte der letzten drei Jahre durch, in denen MCA bis zur Schließung Ende 1992 jeweils zwischen 400 und 600 Millionen Peseten umgesetzt hatte. Geschäftssitz war eine Adresse in der Avenida República de Argentinia. Und die Namen der Direktoren sprangen ihm förmlich ins Auge: Ramón Salgado, Eduardo Carvajal, Marta Jiménez und Firmin León. Er fragte sich, was Ramón Salgado über die Sicherheit von Gebäuden wusste – wahrscheinlich in etwa so viel wie Raúl Jiménez’ zurückgebliebene Tochter Marta. Zumindest Comisario León hatte einen Beruf, der im weiteren Sinne mit Sicherheit zu tun hatte … Trotzdem war Falcón sich sicher, dass es sich bei dem Unternehmen um eine Tarnfirma handelte, über die Geldmittel an Raúl Jiménez und seine teuren Freunde verteilt wurden. Und Eduardo Carvajal … warum kam ihm der Name so bekannt vor?
Er fotokopierte die Unterlagen und fuhr zur Jefatura zurück. Auf dem Parkplatz fiel ihm wieder ein, wann er Carvajals Namen zum ersten Mal gehört hatte: Es war im Zusammenhang mit einem Fall gewesen, über den viel geredet worden war, als er aus Madrid kommend seinen neuen Posten hier angetreten hatte. Eduardo Carvajal war Mitglied eines Pädophilenrings gewesen, hatte sich jedoch nie vor Gericht verantworten müssen, weil er 1998 bei einem Auto Unfall an der Costa del Sol ums Leben gekommen war. Falcón rief Comisario Lobo an und bat um einen Termin.
Bevor er nach oben ging, hörte er seine Nachrichten ab, darunter eine von der Polizei in Cádiz, die ihm mitteilte, dass man Eloisa Gómez’ Schwester zur Identifizierung der Leiche nach Sevilla bringen würde, und eine
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