Der Blinde von Sevilla
Stelle mit einem Bajonett erstochen. Dann mussten wir die Straße von Moskau nach Leningrad entlangmarschieren. Die Bilder der Verheerung waren so gewaltig, die russischen Opfer so zahlreich verstreut, dass es verständlich war, warum jeder Russe, den wir getroffen haben, sturzbetrunken war. Einige unserer Wachen gesellten sich immer wieder zu den Trinkgelagen am Wegesrand. Als wir den Fluss erreichten, führten zwei Russen unseren Hauptmann zum Verhör ab. Damit blieben vier Männer, die uns zu dem mit Stacheldraht abgezäunten Gelände bei Jam Ischora brachten. Die Vorstellung, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen, gefiel uns gar nicht. Wir besprachen den Plan auf Spanisch und gingen auf das verabredete Zeichen hin auf sie los. Ein Schlag gegen den Hals des mir am nächsten stehenden Wärters, dann war ich von der Straße und rannte im Zickzack Richtung Torfmoor. Sie feuerten wild in die Gegend, aber wir schafften es bis zu einem Panzerabwehrgraben, dem wir bis zu der Stelle folgten, wo unsere Stellungen gewesen waren. Doch wir fanden nur betrunkene und schlafende Russen. Als wir es zur Hauptstraße zurückgeschafft hatten, hörten wir endlich die ersehnten Worte: »Alto! Quién vive?«
»España« , antworteten wir und sanken in die wartenden Arme.
13. Februar 1943
Was ich in diesen Tagen gesehen habe, hat mich erschüttert und mutlos gemacht. Schlachtenruhm ist ein Ding der Vergangenheit. Im Nebel moderner Kriegsführung, wo donnernde Maschinen alles vernichten und in Staub und Asche legen, verschwindet das individuelle Heldentum. Man ist tapfer und sollte sich schon ruhmreich fühlen, weil man die Arena überhaupt betreten hat. Das habe ich getan und überlebt, doch ich habe mich nie einsamer gefühlt. Selbst als ich von zu Hause weggelaufen bin, habe ich mich nicht so allein gefühlt wie jetzt. Ich kenne niemanden, und niemand kennt mich. Mir ist kalt, aber von innen. In meinem Wolfsfellmantel und der Bärenfellmütze bin ich ein einsames Tier ohne Rudel auf der schneebedeckten Ebene, wo der Horizont mit der Landschaft verschmilzt, so dass es keinen Anfang und kein Ende gibt. Ich bin auf eine Weise müde, die mir die Knochen zermalmt, so dass ich nur noch schlafen will mit Träumen weiß wie der Schnee und in einer Kälte, von der ich weiß, dass sie mich schmerzlos davontragen wird.
9. September 1943
Seit Krassnij Bor habe ich kein Wort mehr geschrieben, und wenn ich jetzt in meinem Tagebuch lese, weiß ich auch, warum. Ich bin dem heimkehrenden Bataillon 14 zugeteilt worden, was mir die Kraft gibt, mich erneut der leeren Seite zu stellen. Heute haben uns die Russen erklärt, dass die Italiener kapituliert haben. Sie haben ein Plakat mit riesigen roten Lettern aufgehängt: »Españoles, Italia se ha capitulade! Pasares a nosotros.« Einige guripas sind unter dem Zaun durchgekrochen, haben das Plakat abgerissen und ihr eigenes aufgehängt: »No somos Italianos.« Die Deutschen waren ausnahmsweise einmal ihrer Meinung.
Meine Gedanken drehen sich um Zuhause, aber ich habe kein Zuhause. Ich möchte nur nach Spanien zurück und mit einem Glas tinto in der trockenen Hitze Andalusiens sitzen. Ich beschließe, dass ich nach Sevilla gehen werde. Sevilla wird mein Zuhause werden.
14. September 1943
Wir sind von der Front zum etwa 60 km entfernt liegenden Wolosovo marschiert. Ich sollte fröhlich sein, die meisten guripas singen. Doch ich bin noch immer zu Tode erschöpft. Ich hatte gehofft, dass das mit der Entfernung von der Front besser werden würde, doch mein Geist ist finster, und ich bringe kaum ein Wort heraus. Nachts schwitze ich und wache auf einem nassen Kopfkissen auf, obwohl es gar nicht heiß ist. Nie gleite ich in den Schlaf. Es ist jedes Mal eine Serie von Zuckungen, die, von meinem Bauch ausgehend, bis zum Kopf durchschlagen wie ein Ochsenziemer. Meine linke Hand zittert und neigt zu spastischen Anfällen. Ich wache mit dem Gefühl auf, dass meine Hände nicht meine eigenen sind, und bin vom ersten Augenblick des neuen Tages an total verängstigt.
Ich betrachte meine Zeichnungen, und es ist weder das Stadtbild Leningrads mit der Kuppel der Isaak-Kathedrale und der Turmspitze der Admiralität, noch sind es die Porträts meiner Kameraden und russischen Gefangenen, die mich bewegen. Es sind die Winterlandschaften. Bögen weißen Papiers mit verwischten Andeutungen von Gebäuden, izbas oder Kiefern. Sie sind die Abstraktion eines geistigen Zustands, eine gefrorene Wildnis, in der selbst
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