Der Blinde von Sevilla
Gewissheiten nur eine schwankende Präsenz haben. Eine davon zeige ich einem anderen Veteran der russischen Front, der sie eine Weile betrachtet. Als ich schon glaube, dass er das Gleiche gesehen hat wie ich, gibt er mir das Blatt mit den Worten zurück: »Das ist aber ein komischer Wolf.« Zunächst bin ich perplex, doch dann amüsiert es mich und gibt mir das erste Fünkchen Hoffnung seit Februar.
7. Oktober 1943, Madrid
Heute habe ich die Legion nach zwölfjährigem Dienst offiziell verlassen. Ich habe einen Knappsack und einen Ranzen mit meinen Büchern und Zeichnungen. Mein Geld reicht für ein Jahr. Ich gehe nach Andalusien, zu dem herbstlichen Licht, den stechend blauen Himmeln und der sinnlichen Hitze. Ich werde Wein trinken und das Faulsein lernen.
Wegen der Blockade der Amerikaner gibt es kaum Benzin für öffentliche Verkehrsmittel. Ich werde nach Toledo laufen müssen.
19
Mittwoch, 18. April 2001, Falcóns Haus,
Calle Bailén, Sevilla
Die Katastrophen des Schlafes – all die freien Fälle, ausgespuckten Zähne, Prüfungen, zu denen man zu spät kommt, Autos ohne Bremsen und abbröckelnden Felsvorsprünge –, wie überleben wir sie bloß? Wir sollten Nacht für Nacht vor Angst sterben. Mit solchen Gedanken fand sich Falcón in der ihn umgebenden Dunkelheit wieder. Und wie überlebte er seine eigenen Katastrophen? Indem er den Schlaf mied.
Er joggte am dunklen Fluss entlang, bis es dämmerte. Auf dem Rückweg blieb er stehen, um einen Ruderachter zu beobachten. Der Rumpf des Bootes durchschnitt die Wasseroberfläche und schnellte bei jedem kraftvollen Ruderstoß der Besatzung nach vorne. Falcón sehnte sich danach, mit ihnen auf dem Wasser zu sein, Teil ihrer mühelos wirkenden Harmonie. Er dachte an seine eigene Truppe, den fehlenden Zusammenhalt, ihre fragmentarischen Bemühungen und seine Führung. Er hatte den Kontakt und die Kontrolle verloren und war nicht mehr in der Lage, die Richtung der Ermittlung vorzugeben. Er sammelte seine Kräfte, ging zu Boden, machte 50 Liegestütze und versprach den Pflastersteinen, dass es heute anders sein würde.
In der Jefatura war noch alles still, er war wieder mal sehr früh dran. Er warf einen Blick auf Ramírez’ Bericht. Der portero konnte sich nicht erinnern, gesehen zu haben, dass Eloisa Gómez den Friedhof betreten hatte, was nicht weiter überraschend war. Serrano hatte seine Überprüfung sämtlicher Krankenhäuser und Großhändler für medizinischen Bedarf abgeschlossen. Es waren keine Diebstähle oder ungewöhnliche Verkäufe gemeldet worden. Die Médico Forense hatte die Todeszeit nach hinten verschoben und mit Samstagmorgen neun Uhr angegeben. Der Mageninhalt des Mädchens bestand aus einer halb verdauten Mahlzeit solomillo , Schweinefilet, das sie nach Mitternacht zu sich genommen haben musste, sowie einem noch praktisch unverdauten Imbiss, vermutlich chocolate y churros. Ihr Alkoholspiegel ließ darauf schließen, dass sie vermutlich die ganze Nacht getrunken hatte. Falcón stellte sich vor, dass der Mörder mit Eloisa ausgegangen war, als wäre sie seine Freundin, sie zu einem teuren Essen eingeladen hatte, mit ihr in eine Bar oder einen Club gegangen war, gefolgt von dem klassischen ersten Frühstück – und was dann? Gehen wir zu mir? Vielleicht hatte er sie gar nicht mit Chloroform betäubt, sondern den Strumpf von ihrem Bein gerollt und dabei ihren Oberschenkel, ihr Knie und ihren Fuß geküsst. Sie war aufs Bett zurückgesunken, um zum ersten Mal richtig geliebt zu werden, und dann hatte sie vielleicht irgendetwas gespürt, die Augen aufgeschlagen und sein Gesicht über ihrem gesehen, der schwarze Strumpf ein straffes schwarzes Band zwischen seinen Fäusten, seine Augen glänzend vor Vorfreude.
Tatsache war jedoch, dass er sie chloroformiert hatte. Es gab Spuren. Falcón las den Obduktionsbericht weiter. Vagina und Anus wiesen keinerlei Zeichen von sexueller Aktivität in jüngster Zeit auf. In der Vagina fanden sich Spuren eines Spermizids, aber kein Sperma, in dem von häufiger Penetration gedehnten Anus Reste einer Gleitcreme auf Ölbasis. Wieder machten Falcóns Gedanken sich selbstständig, und er sah Eloisa Gómez, wie sie auf den Rücksitzen von Autos und in ihrem Zimmer Freier bediente, bis der Anruf kam, auf den sie den ganzen Tag gewartet hatte. Der Anruf, an den sie gedacht hatte, während ihre körperlose Stimme unter den bestialischen Übergriffen, die man in ihrem Gewerbe zu erleiden hatte, schluchzte und wimmerte.
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