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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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1941, Podberesje
    Unter schwerem Artilleriefeuer haben wir den Zug verlassen und unser Lager südlich der Stadt am Fluss Wolchow aufgeschlagen. Hinter uns liegt ein dichter Wald voller Partisanen. Auf der anderen Seite des Flusses stehen die Russen. Der Boden ist ein einziger zäher Schlamm, genannt rasputitsa , jede Bewegung beschwerlich. Nachts friert es.

    30. Oktober 1941, Sitno
    Nach einer Woche heftiger Gefechte und schwerer Verluste ist unsere Einheit zurückgezogen worden. Dieser Krieg wird jeden Tag unbegreiflicher. Neulich haben wir Dubrowka angegriffen. Wir wollten die russischen Verteidigungslinien umgehen und von hinten angreifen. Sobald wir uns im Süden der Stadt neu formiert hatten, wurden wir unter Artilleriefeuer genommen, und als wir dem Sektor entfliehen wollten, landeten wir in einem Minenfeld. Was hatte ein Minenfeld hier zu suchen? Überall lagen Leichen. García, der sein linkes Bein verloren hatte, hielt sich den Unterleib und brüllte: »A mía la Legión!« Wir haben unsere Reihen geschlossen und die Russen angegriffen. Als wir schließlich zu ihnen vorgedrungen waren, sind wir ausgerastet und hätten sie alle niedergemetzelt, wenn wir nicht so erschöpft gewesen wären. Leutnant Martínez erklärt uns, dass alle russischen Einheiten politische Offiziere haben, die dafür zuständig sind, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Sie streuen Minen hinter ihrer Frontlinie, um die eigenen Truppen am Rückzug zu hindern. Gegen wen kämpfen wir hier eigentlich? Jedenfalls nicht gegen die Einheimischen. Sobald wir sie gefangen genommen haben, werden sie so nützlich wie unsere eigenen Leute.

    1. November 1941, Sitno
    Hitze kenn ich. Hitze versteh ich. Ich habe gesehen, wie sie Menschen zusetzen kann. Ich habe gesehen, wie Männer gestorben sind, weil sie zu viel Wasser getrunken haben. Aber die Kälte kenne ich nicht. Die Landschaft um uns herum ist fest geworden, die Bäume sind starr vor Frost. Der Boden ist unter dem wehenden Pulverschnee eisenhart, sodass unsere Stiefel klirren. Eine Hacke hinterlässt keinen Abdruck. Wir müssen Sprengstoff benutzen, wenn wir uns eingraben wollen. Meine Pisse gefriert, sobald sie den Boden berührt. Und unsere russischen Gefangenen erklären uns, dass das noch nicht die wirkliche Kälte ist.

    8. November 1941
    Der Wolchow ist zugefroren. Schwer zu glauben, dass er einen Meter dick vereisen und die Strategie dieses kleinen Krieges komplett verändern kann. Schon jetzt können Soldaten den Fluss auf Brettern überqueren. Sie haben versucht, auch Pferde ans andere Ufer zu bringen, doch eines rutschte von den Planken und brach ein. In seiner Panik riss es sich von seinem Führer los, der nur zusehen konnte, wie das zu Tode verängstigte Tier versuchte, sich wieder über Wasser zu strampeln. Es war erstaunlich, wie schnell sich das große Tier der Kälte ergab. Nach einer Minute hörten die Hinterbeine auf, sich zu bewegen. Nach zwei Minuten waren auch die Vorderläufe reglos. Bis zum Nachmittag hatte sich um seinen Leib neues Eis gebildet, und das Tier war fest eingefroren, das Entsetzen in seinen Augen noch immer lebendig. Es ist ein Monument des Grauens geworden. Kein von einem irren Stadtrat beauftragter Bildhauer hätte den Moment besser einfangen können. Die neu an die Front gekommenen guripas können ihre Blicke nicht davon losreißen. Einige schauen zum westlichen Ufer des Flusses zurück und begreifen, dass die Zivilisation hinter ihnen liegt. Und jenseits des Eispferdes wartet nicht wie erhofft der Ruhm einer leidenschaftlichen Sache, sondern ein Blick in die kälteste Kammer des menschlichen Herzens, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.

    9. November 1941
    In Nikitino habe ich eine Szene wie aus dem Mittelalter beobachtet. Ein russischer Gefangener ging mit einem Hammer zwischen seinen gefallenen Kameraden umher und brach ihnen die Finger, mit denen sie nach wie vor ihre Waffen hielten. Keiner der Toten trug Stiefel. Sie waren alle gestohlen worden. Nachdem man ihnen Finger und Arme gebrochen und die Waffen abgenommen hat, kann man den Toten auch ihre Pelze und gefütterten Jacken abnehmen. Mit meiner kürzlich ergatterten Bärenfellmütze sehe ich aus wie ein Wolfsmensch. Die Front hat sich mittlerweile bis Otonskii und Possad ausgedehnt.

    18. November 1941, Dubrowka
    Die Russen haben die Flanken unserer neuen Front angegriffen. Possad wurde beschossen mit allem, was sie haben – Mörser, Panzerfäuste und Artillerie. Wir haben es am

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