Der Blinde von Sevilla
Calderóns Büro, blieb stehen, gab Falcón die Hand und schien eine aufdringliche Frage auf der Zunge zu haben, die er dann doch nicht stellte. Dann bat Calderón Falcón herein und entschuldigte sich, dass er ihn so lange hatte warten lassen.
»Dr. Spinola ist kein Mann, den man einfach hinauswirft«, sagte Falcón.
Aber Calderón hörte ihn gar nicht, sondern griff in Gedanken versunken nach einer Zigarette. Er zündete sie an und zog intensiv daran. »Das war das erste Mal, dass er in eines unserer Büros gekommen ist, um über einen bestimmten Fall zu sprechen«, sagte er, an die Wand über Falcóns Kopf gerichtet. »Normalerweise gehe ich zu ihm und gebe ihm einen Überblick.«
»Was hat ihm denn solche Sorgen bereitet?«
»Gute Frage«, sagte Calderón. »Ich bin verwirrt.«
»Wenn es etwas mit unserem Fall zu tun hat, kann ich vielleicht weiterhelfen«, sagte Falcón.
Calderón erwog blitzschnell die Situation und überließ die Entscheidung, ob man diesem Mann trauen konnte, dann seinem Instinkt. Die Entscheidung fiel negativ aus, aber nur sehr knapp. Falcón dachte, dass Calderón ihm, wenn sie noch ein paar Augenblicke wie den auf dem Friedhof geteilt hätten, vielleicht vertraut hätte.
»Was haben Sie für mich, Inspector Jefe?«, fragte er. »Heute ohne Inspector Ramírez?«
Falcón war ohne Ramírez gekommen, weil er eine persönliche Beziehung zu Calderón aufbauen und gleichzeitig Ramírez’ Zugang zu Informationen beschneiden wollte, damit sein Kollege nicht das Gesamtbild, sondern bestenfalls einzelne Teile des Puzzles zu sehen bekam. Doch nun änderte er seine Meinung wieder. Der Anblick von Dr. Spinola hatte ihn vorsichtig gemacht. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den Namen Carvajal in den Fluren des Edificio de los Juzgados fallen zu lassen. Auch dies war eher eine instinktive als eine logische Entscheidung, denn die einzige flüchtige Verbindung bestand darin, dass Spinola zusammen mit León und Bellido an Jiménez’ Wand mit Fotos aufgetaucht war, während Carvajal wiederum auf der Liste der Gehaltsempfänger von MCA Consultores gestanden hatte. Die vage Andeutung dieser Tatsache gegenüber Consuelo Jiménez war ein kalkuliertes Risiko gewesen. Er hatte zunächst nur wissen wollen, ob sie Bescheid gewusst hatte, und nicht einmal das hatte er definitiv klären können. Wenn Falcón diese Spur jedoch durch eine Erwähnung gegenüber Juez Calderón offiziell machte, konnte das ungeahnte Konsequenzen haben. Vielleicht würde die Information bis zu Comisario León durchsickern. Damit hatte er jetzt das Problem, dass er bis auf dieses eine Thema, das er unbedingt vermeiden wollte, nichts hatte, worüber er mit Calderón hätte sprechen können.
»Sie hatten neulich eine Idee, bevor Sergios SMS uns abgelenkt hat«, sagte Falcón.
»Sergio?«
»So nennen wir den Mörder. Diesen Namen hat er gegenüber Eloisa Gómez benutzt«, sagte Falcón. »Erinnern Sie sich? Wir wollten Kontakt zu ihm aufnehmen, ihn auf seine Fehler hinweisen und ihn so provozieren, verhängnisvollere zu begehen.«
»Er hat doch ihr Handy bei der Leiche liegen lassen.«
»Aber er hat immer noch das Handy von Raúl Jiménez.«
»Haben wir außer dem Namen noch irgendetwas Neues über Sergio erfahren?«
»Eloisa Gómez und ihre Schwester haben ihn einem bestimmten Typ zugeordnet. Sie nannten ihn un forastero , einen Außenseiter.«
»Ein Ausländer?«
» Forastero beschreibt für sie eher einen geistigen Zustand. Er ist jemand, der die Dinge jenseits des normalen alltäglichen Lebens sieht und versteht. Er weiß, was wirklich geschieht. Er hat ein instinktives Verständnis für das, was zwischen den Zeilen mitschwingt.«
»Das klingt aber reichlich rätselhaft, Inspector Jefe.«
»Nicht an den Rändern der Gesellschaft, wo die Leute sich von der so genannten Normalität gelöst haben. Wo man beispielsweise täglich seinen Körper verkauft oder einen anderen Menschen erschießt, weil man kein Geld hat. Auf der anderen Seite der Skala ist es im Grunde gar nicht viel anders. Bei den Menschen mit Macht, die wissen, wie man noch mehr davon bekommt und seine Position verteidigt. Keiner von ihnen betrachtet die Dinge so wie die normalen Leute, die mit ihrem Beruf, ihrem Haus und ihren Kindern beschäftigt sind.«
»Und Sie glauben, ein Künstler, als den Sie unseren Mörder auf dem Friedhof charakterisiert haben, würde diese ungewöhnliche Sicht auf die Welt teilen?«, fragte Calderón.
»Es würde zu
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