Der Blinde von Sevilla
hinterher Probleme hatte, seine Finger zu lockern, um seinen Bericht zu schreiben. Seine Konzentration schwankte zwischen den Trümmern seiner Ermittlung und der unerklärlichen Gewissheit über Calderóns unermüdliche sexuelle Ausdauer.
Eben hatte er noch mit seinem Bericht gekämpft, jetzt saß er neben Alicia Aguado, und ihre Finger schwebten über seinem Handgelenk.
»Sie sind aufgeregt«, sagte sie.
»Ich war sehr beschäftigt.«
»Mit der Arbeit?«
Ein Lachen platzte aus ihm heraus, und binnen Sekunden lachte er völlig unkontrolliert. Alicia ließ ihn los, als er sich den Bauch haltend auf das Sofa warf. Der Anfall ging vorüber, er wischte sich die Tränen ab und nahm wieder Platz.
»Beschäftigt … das Wort ist zur Beschreibung meines Tages geradezu absurd untertrieben«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass das Leben eines Verrückten so voll gepackt ist. Ich quetsche ein ganzes Leben in jede winzige Lücke, die ich finde. Niemand kann irgendetwas zu mir sagen, ohne dass eine ganze Welt an die Oberfläche gezerrt wird. Ein Staatsanwalt sitzt in seinem Büro und redet über seinen Lieblingsfilm, und ich renne in meinen Fantasien an einem Strand entlang und werde kreischend in die Luft geworfen.«
»Von Ihrer Mutter?«
Falcón zögerte. »Also das ist seltsam«, meinte er dann.
Schweigen.
»Es war wie ein Traum, in dem etwas fehlte, und jetzt weiß ich, was. Ich wurde von einem Mann hochgeworfen.«
»Von Ihrem Vater?«
»Nein, nein. Von einem Fremden.«
»Sie haben ihn nie zuvor gesehen?«
»Ein Marokkaner. Ich glaube, dass er ein Freund meiner Mutter gewesen sein muss.«
»War das ungewöhnlich?«
»Nein, nein. Marokkaner sind sehr freundliche Leute. Sie plaudern gern. Sie sind sehr neugierig. Sie haben eine erstaunliche Gabe …«
»Ich meinte, dass Ihre Mutter, eine verheiratete Frau, einen Fremden am Strand getroffen und ihm erlaubt hat, ihren Sohn in die Luft zu werfen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er vollkommen fremd war. Nein, ich hatte ihn schon einmal gesehen. Wahrscheinlich war er der Besitzer eines Ladens, in dem meine Mutter immer eingekauft hat. Irgendetwas in der Richtung.«
»Was ist im Zimmer des Staatsanwalts passiert?«
Er berichtete von dem Treffen, der versuchten Kontaktaufnahme mit Sergio, dem Almodóvar-Film, von Sergios schrecklicher Antwort und davon, was sie in ihm ausgelöst hatte. »Was mich erschüttert hat, war die Tatsache, dass der Mörder nach unserem Gespräch über Außenseiter ausgerechnet aus diesem Buch zitiert hat. Ich bin mir sicher, dass es L’Étranger ist. Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt.«
»Beachten Sie es gar nicht«, sagte sie. »Synchronizität. So etwas passiert ständig. Konzentrieren Sie sich auf die Themen.«
»Und die wären?«
Alicia Aguado schwieg.
»Meine Mutter«, sagte er. »Das ist ein Thema.«
»Warum hat Sie das Camus-Zitat so erschüttert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie ist Ihre Mutter gestorben? War sie krank?«
»Nein, nein, krank war sie nicht. Sie hatte einen Herzinfarkt, aber …«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Da war etwas … irgendeine Szene auf der Straße. Paco, Manuela und ich waren im Haus. Und auf der Straße vor dem Haus herrschte ein großer Aufruhr. Ich weiß nicht mehr, worum es ging. Aber erst danach kam unser Vater zu uns, um uns zu sagen, dass unsere Mutter tot war. Es fällt mir einfach nicht mehr ein … was genau da passiert ist.«
»Was geschah nach ihrem Tod?«
»Sie wurde beerdigt. Von diesem Tag ist mir nur die Erinnerung an viele Beine und eine allgemeine Düsterkeit geblieben. Es war Februar, und es hat geregnet. Mein Vater hat anschließend viel Zeit mit uns verbracht, uns versorgt und getröstet.«
»Haben Sie den Fremden vom Strand je wieder gesehen?«
»Nein.«
»Wie lange hat es gedauert, bis Ihr Vater wieder geheiratet hat?«
»Wir kannten Mercedes schon«, sagte er. »Sie war schon lange eine Freundin der Familie. Sie hat meinem Vater viel geholfen, seine Werke in Amerika vermarktet. Sie hatten schon vor dem Tod meiner Mutter einer Affäre … hatte ich das schon erzählt? Ich habe es gerade erst herausgefunden.«
»Weiter.«
»Mercedes war noch verheiratet, als meine Mutter starb. Danach ist dann auch ihr Mann in Amerika gestorben, an Krebs, glaube ich. Auf der Yacht ihres Mannes kam sie zurück nach Tanger. Es muss etwa ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter gewesen sein, dass sie geheiratet haben.«
»Mochten Sie Mercedes?«
»Ich habe Mercedes
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