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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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seinem Profil passen«, sagte Falcón. »Sie haben eben gefragt, ob er ein ›Ausländer‹ ist; Eloisa Gómez hat ihrer Schwester erzählt, dass Sergio zwar offensichtlich Spanier war, aber trotzdem irgendwie fremd wirkte. Er hat fremdes Blut in den Adern oder war lange von seinen spanischen Wurzeln abgeschnitten.«
    »Und inwiefern sollte das unser Vorgehen ändern?«
    »Ich glaube, ihn auf einen Fehler hinzuweisen, ist zu offensichtlich. Darüber würde er nur lachen. Forasteros wissen, wenn man sie manipuliert.«
    »Vielleicht sollten wir ihm dann zeigen, dass wir ihn verstehen.«
    »Ja, aber auf der künstlerischen Ebene«, sagte Falcón. »Wir dürfen nicht zu profan sein, müssen ihn auf die gleiche Art faszinieren wie er uns. Dem Verständnis seiner letzten Lektion der Sehschule sind wir noch keinen Schritt näher gekommen. ›Warum müssen die sterben, die zu lieben lieben?‹«
    »Wollte er uns damit nicht bloß sagen, dass er sie tötete, weil sie ihn gesehen hat – weil sie über ›die Gabe der perfekten Sicht‹ verfügte?«
    »Aber dieses ›die zu lieben lieben‹? Er präsentiert sie als Sinnbild und hat ausgerechnet eine Prostituierte für seine Zwecke ausgesucht. Er versucht, unsere Sicht der Dinge zu verändern, und wir müssen dasselbe tun. Wir müssen versuchen, ihn etwas so sehen zu lassen, als würde er es zum ersten Mal sehen.«
    »Wir brauchen also bloß ein Genie in unseren Reihen«, seufzte Calderón. »Angeblich ist dieses Gebäude voll davon, wenn man den Erzählungen glauben will.«
    »Wir borgen uns unser Genie von den Klassikern«, sagte Falcón. »Er ist ein Dichter und Künstler … das ist seine Sprache.«
    » ›Los buenos pintores imitan la naturaleza, pero los malos la vomitan.‹ Gute Maler ahmen die Natur nach, schlechte speien sie aus. Cervantes.«
    »Das würde ihn vielleicht auch noch ärgern«, sagte Falcón.
    »Aber was versuchen wir mit dieser Strategie zu erreichen?«, fragte Calderón. »Was wollen wir von ihm?«
    »Wir versuchen, ihn einzuholen, einen Dialog mit ihm zu beginnen. Wir wollen, dass er anfängt, uns etwas über sich zu verraten.« Falcón tippte die Cervantes-Zeile in sein Handy und schickte die SMS ab. Die beiden Männer lehnten sich auf ihren Stühlen zurück und kamen sich dumm vor. Ihre ganze Ermittlung war auf die absurde Aktion reduziert worden, Cervantes-Zitate in den Äther zu schicken.
    Nun mussten sie sich auf ihre eigenen Kräfte besinnen, ohne dass es außer der gegenseitigen Anerkennung ihrer Intelligenz zu einem echten Kontakt gekommen war. Falcón würde nicht über Fußball reden, und Calderón hatte nicht vor, ihn dazu zu zwingen.
    »Ich habe mir gestern Abend einen Film auf Video angeschaut«, sagte Calderón. » Todo sobre mi Madre – ›Alles über meine Mutter‹. Haben Sie ihn gesehen? Er ist von Pedro Almodóvar.«
    »Noch nicht«, antwortete Falcón, und etwas Seltsames geschah. Für eine Sekunde brach seine Erinnerung auf, und er war wieder in Tanger, rannte spritzend durchs flache Wasser und flog dann kreischend durch die Luft.
    »Wissen Sie, was mich an diesem Film gepackt hat?«, redete Calderón weiter. »In den ersten Minuten schafft der Regisseur diese unglaublich intime Beziehung zwischen Sohn und Mutter. Und wenig später wird der Junge getötet. Und … ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt; wenn er stirbt, fühlt man sich, als wäre man die Mutter. Man glaubt nicht, dass man sich je wieder von diesem schrecklichen Verlust erholen wird. Das ist meiner Ansicht nach genial. Eine Welt auf ein paar Metern Zelluloid zu verändern.«
    Falcón wollte etwas sagen, er wollte antworten. Doch es war zu groß. Er brachte es nicht über die Lippen. Nur Tränen schossen ihm in die Augen, die er sofort wegblinzelte. Calderón schüttelte den Kopf, ohne etwas von Falcóns innerem Kampf mitzubekommen.
    »Wir haben etwas«, sagte Calderón dann und nahm das Handy.
    Er las den Text auf dem kleinen Display, runzelte erst fragend und schließlich genervt die Stirn.
    »Sprechen Sie Französisch?«, fragte er und gab Falcón das Handy. »Ich meine, es ist einfach, aber … sehr seltsam.«
    »Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.«
    Falcón wurde so übel, dass er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen.
    »Ich verstehe es«, sagte Calderón. »Aber was soll das heißen?«
    »›Heute ist Mutter gestorben. Oder war es gestern, ich weiß nicht mehr‹«, sagte Falcón. »Und da ist noch mehr: ›Nehmen Sie

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