Der Blinde von Sevilla
nicht noch einmal Kontakt auf, cabrón. Ich erzähle die Geschichte.‹«
»Er hat den Spieß umgedreht«, sagte Calderón. »Aber was hat das zu bedeuten?«
»Er konnte nicht widerstehen«, sagte Falcón. »Er wollte uns zeigen, dass er es noch eins draufsetzen kann.«
»Wie das?«
»Ich glaube, dass er mit der französischen Sprache und Literatur vertraut ist«, sagte Falcón.
»Es ist ein Zitat?«
»Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es ist aus L’Étranger von Albert Camus.«
Das Edificio de los Juzgados war abends um diese Zeit fast leer, und Falcóns Schritte hallten in seinem hohlen Körper wider, als er den langen Flur hinunter zum Treppenhaus ging. Er musste sich am Geländer festhalten, als er die Stufen hinabstieg, und auf jedem Absatz Halt machen, um das Zittern seiner Beine zu kontrollieren. Dabei versuchte er, sich einzureden, dass es purer Zufall war, dass es keine bizarre Telepathie zwischen ihm und Sergio gab. Das Leben war voller solch merkwürdiger Momente. Es gab sogar ein Wort dafür: Synchronizität. Das sollte an sich etwas Gutes sein. Menschen mochten synchronisierte Ereignisse. Aber nicht auf diese Weise. Nicht ihr Gespräch über Außenseiter, Calderóns Kommentar über den Film und dann Sergio, der mit dieser grausamen Zeile zurückschlug. Eine Zeile, die ihn von der normalen Welt menschlicher Beziehungen abschnitt, von der tiefen Bindung zwischen Mutter und Sohn. Es waren die Worte des einsamsten Individuums auf diesem Planeten, und sie hatten sich in Falcóns Inneres gefressen wie eine Kettensäge.
Als er durch die Sicherheitssperre war, beruhigte er sich langsam. Auf der anderen Seite stand Inés und schob ihre Handtasche und ihren Aktenkoffer durch die Maschine. Sie war der letzte Mensch, den Falcón jetzt treffen wollte. Und schon stürzte alles wieder auf ihn ein – ihre Schönheit, der Sex, seine Sehnsucht und ihr gemeinsames Scheitern. Während sie auf ihre Taschen wartete, sah sie ihn direkt und beinahe spöttisch an.
» Hola , Inés.«
» Hola , Javier.«
Der Hass war unverhohlen. Sie würde ihm nie verzeihen, und das verstand er nicht, denn in ihm selbst war kein vergleichbarer Groll. Sie hatten einen Fehler gemacht. Sie hatten ihn erkannt. Sie hatten sich getrennt. Und jetzt konnte sie ihn nicht ausstehen. Der Sicherheitsbeamte gab ihr die Taschen zurück, und sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Dann presste sie ihre Lippen aufeinander und wandte sich wieder Falcón zu. Gern wäre er jetzt in der Lage gewesen, den einen Satz zu sagen, die eine Geste zu vollziehen, die alles verändert hätten – wie im Film. Aber ihm fiel nichts ein. Es gab nichts zu sagen. Ihre Beziehung hatte selbst die Chance auf Freundschaft verpasst, weil sie ihn zu sehr verachtete.
Sie ging davon. Die schmalen Schultern, die schlanke Taille, die wiegenden Hüften, die sicheren Schritte auf hohen Absätzen.
Der Sicherheitsbeamte biss sich auf die Lippe und sah ihr nach, und Falcón begriff, warum sie ihn so verachtete. Er hatte die Perfektion ihres Lebens zerstört. Die lebhafte, schöne und brillante Jurastudentin, die eine herausragende junge Staatsanwältin geworden war, verehrt von Männern und Frauen, wohin sie auch ging, hatte sich in ihn verliebt – Javier Falcón. Und er hatte sie enttäuscht. Denn er war daran gescheitert, sie zu lieben. Er hatte ihre Makellosigkeit angekratzt. Deswegen musste sie glauben, dass er kein Herz hatte – die einzig mögliche Erklärung für sein Scheitern.
Draußen stellte er sich an eine der Säulen des angrenzenden Justizgebäudes und hielt den Haupteingang des Edificio de los Juzgados im Blick. Wenige Minuten später tauchte Inés dort wieder auf, gefolgt von Esteban Calderón. Sie wartete, küsste ihn auf den Mund und hakte sich unter, bevor sie den Säulengang Richtung Calle Menéndez Pelayo hinuntergingen.
Hatten sie sich wirklich geküsst? Oder war das eine Täuschung des Lichts gewesen?
Doch sein gewohntes Talent, Zweifel in sich zu säen, versagte. Es war zu offensichtlich gewesen. Und noch etwas war offensichtlich: Wie unlogisch der menschliche Geist war. Denn er liebte sie nicht. Er spürte keinen Groll. Ihre Beziehung war nicht zu kitten. Und doch wurde er von einer gewaltigen Eifersucht gepackt, die jede Faser seines Körpers zu verzehren schien. Warum?
Falcón rannte zu seinem Wagen und hielt auf der Rückfahrt zur Jefatura das Steuer so fest gepackt, dass er
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