Der Blinde von Sevilla
meines Mannes könnte ein missbrauchter Junge sein, der sich rächen will?«, fragte sie. »Das glaube ich nicht, Don Javier. Er hatte nie diesbezügliche Neigungen …«
»Ein Ring von Pädophilen missbraucht in der Regel nicht nur ein Kind. Es sind viele Täter mit vielen unterschiedlichen Geschmäckern. Vielleicht handelt es sich um einen missbrauchten Jungen, der sich im Namen der anderen rächt.«
»Glauben Sie, so jemand würde auch die Prostituierte töten?«, fragte sie. »Er würde sie doch gewiss eher als Opfer betrachten, so wie sich selbst.«
»Nach Angaben von Eloisa Gómez’ Schwester haben die beiden so vertraulichen Umgang miteinander gepflegt, dass sie angefangen hatte, sich Hoffnungen zu machen. Wenn er ihr dann enthüllt hätte, dass ihre Beziehung rein zweckmäßig war, hätte sie zu einer Gefahr werden können, jemand, der vielleicht irgendwann später auf einen Deal mit der Polizei angewiesen sein könnte, zum Beispiel. Es wäre zu riskant gewesen, sie zu verschonen.«
»Das haben Sie sich aber genau überlegt.«
»Ich gehe dieser Spur nur wegen der Gratifikation nach, die Ihr Mann Carvajal hat zukommen lassen.«
»Wissen Sie, was Sie tun, Don Javier?«
»Nein.«
»Sie kriegen mich ans Arbeiten.«
»Sie wissen also nichts darüber?«
»Ich habe Señor Carvajal nie getroffen.«
»Das könnte darauf hindeuten, dass die Beziehung zwischen Ihrem Mann und Señor Carvajal nicht geschäftlicher Natur war«, sagte Falcón. »Andernfalls hätten Sie ihn gekannt, oder?«
»Er war jedenfalls nicht in der Gastronomie tätig.«
»Ich weiß nur, dass er ein Geschäftsmann war«, sagte Falcón und stand auf.
»Sie gehen?«
»Wir haben alle Fragen erörtert.«
Sie beugte sich über den Schreibtisch und fixierte ihn mit ihren eisblauen Augen.
»Wissen Sie was, Don Javier? Wenn das alles vorbei ist, sollten wir beide mal zusammen Abend essen.«
»Sie könnten enttäuscht sein«, sagte er.
»Warum?«
»Wir würden es nie schaffen, die aufreizende Dynamik noch einmal wieder heraufzubeschwören, die daraus entsteht, dass Sie die Hauptverdächtige in einem Mordfall sind, in dem ich die Ermittlung leite.«
Sie lachte – kehlig, ungehemmt und sexy.
»Da wäre doch noch eine Sache«, sagte er, schon an der Tür. »Wir würden uns gern Ihre Telefonrechnungen und -listen der vergangenen zwei Jahre ansehen, sowohl Ihre geschäftlichen als auch Ihre privaten. Können Sie uns die zugänglich machen?«
Ihre Blicke trafen und verhakten sich. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und nahm den Hörer ab.
22
Donnerstag, 19. April 2001,
Edificio de los Juzgados, Sevilla
Falcón lief auf dem Flur vor Calderóns Zimmer auf und ab. Der Staatsanwalt hatte ihn nach seinem Treffen mit Consuelo Jiménez angerufen, und sie hatten sich für sechs Uhr verabredet. Mittlerweile war es bereits nach sieben, und die vorbeikommenden Sekretärinnen sahen ihn nicht mal mehr mitleidig an. Er war froh, dass es kein Steuerbeamter war, der ihn vor seinem Büro in den Stockwerken über dem Palacio de Justicia nebenan warten ließ, wo die Vorübergehenden möglicherweise gemeinsame Bekannte aus der Zeit mit Inés gewesen wären. Es hätte ihn an die Winterabende erinnert, an denen er sie von der Arbeit abgeholt und sich im Zentrum ihrer geschäftigen Welt wiedergefunden hatte. Ihre Schönheit zog alle Blicke auf sich. Und er war ihr Geliebter. Der Auserwählte. Die Menschen hatten ihn breit lächelnd gemustert und sich gefragt, was sein Geheimnis war. Was hat dieser Javier Falcón? Hatte er sich das alles nur eingebildet? Die Art, wie Frauen geschnuppert hatten, wenn er an ihnen vorbeiging, und Männer ihn über die Wände von Urinalen hinweg verstohlen musterten.
Als er auf dem Flur vor Calderóns Büro auf und ab ging, kam ihm plötzlich der Gedanke, dass es in seiner Ehe vielleicht doch nur um Sex gegangen war. Er hatte sich nicht nur in seinem Begehren verstrickt, sondern auch in dem aller anderen. Hatte es verwechselt – und Inés auch. Sie hatten geglaubt, es wäre die große Liebe, doch das stimmte nicht. Eine flüchtige körperliche Anziehung war vom allgemeinen Bedürfnis nach Wunscherfüllung gekapert worden, und so war etwas, was sich in ein paar Monaten wildem Sex hätte erschöpfen sollen, zu einer Art Hochzeit mit vorgehaltener Schrotflinte geworden. Nur dass in diesem Fall nicht der Brautvater die Waffe gehalten hatte, sondern die Sentimentalität.
Dr. Spinola, der Magistrado Juez Decano de Sevilla, kam aus
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