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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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geliebt von dem Moment an, an dem ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Ich war noch winzig. Sie kam ins Atelier meines Vaters und hob mich hoch. Ich glaube, ich habe mit ihren Ohrringen gespielt. Von diesem Moment an habe ich sie geliebt.«
    »Was ist mit Mercedes geschehen?«
    »Es war eine sehr gute Zeit. Mein Vater war erfolgreich. Die Falcón-Akte waren das Gesprächsthema in der Kunstwelt. Er wurde als neuer Picasso gefeiert, was angesichts des Umfangs und der Qualität seines Œeuvres absurd ist. Dann die Tragödie. Es war nach einem Silvesteressen, nachdem alle zur Yacht unten im Hafen gegangen sind, um sich das Feuerwerk anzusehen Einige beschlossen, noch mit dem Boot auszulaufen, ein Sturm kam auf, und Mercedes ist über Bord gefallen. Man hat ihre Leiche nie gefunden.
    Aber … aber kurz bevor die Gesellschaft das Haus verließ, bin ich aus meinem Kinderzimmer nach unten geschlichen, und Mercedes hat mich gesehen«, sprach er weiter, während die Szene wie ein Film vor seinem inneren Auge ablief. »Sie hat mich wieder ins Bett gebracht. Daran musste ich neulich denken, weil … ja, das war’s. Es fügt sich. In meiner Mordermittlung hat das erste Opfer, Raúl Jiménez, Celtas-Zigaretten geraucht, und genauso haben damals ihre Haare gerochen. Ich habe gerade erst erfahren, dass mein Vater Raúl Jiménez schon aus den 40er Jahren kannte, und heute ist mir klar, dass er auf dieser Party gewesen sein muss, es sei denn, er hatte Tanger schon verlassen.«
    »Ich bin sicher, damals haben auch noch andere Leute diese Marke geraucht.«
    »Ja, natürlich«, gab Falcón ihr Recht. »Mercedes hat mich also nach oben gebracht, mich geküsst und fest an ihren Busen gedrückt. Sie hat mich mit so inniger Liebe gedrückt, dass ich kaum noch Luft bekommen habe. Dabei duftete sie nach einem Parfüm, von dem ich heute weiß, dass es Chanel No. 5 war. Heutzutage benutzen Frauen es nur noch selten. Aber vor Jahren hat mich dieser Duft jedes Mal, wenn ich ihn auf der Straße aufgeschnappt habe, stets zu diesem Moment zurückversetzt. In die Umarmung der Liebe.«
    »Und nachdem Mercedes Sie verlassen hatte?«
    Falcón hielt sich mit der freien Hand den Bauch. »Ich höre …«, stammelte er. »Ich höre ihre Absätze, die den Flur und die Treppe hinunterklappern. Ich höre Gespräche und das Lachen der anderen Gäste. Ich höre, wie die Tür zufällt. Ich höre das Klackern ihrer Schuhe auf dem Pflaster. Und ich erinnere mich daran, dass sie nie mehr zurückgekommen ist.« Sein Blick verschwamm in Tränen. Speichel sammelte sich in seinem Mund, weil er nicht schlucken konnte. Die letzten Worte presste er nur mit Mühe hervor. »Danach gab es keine Mütter mehr.«
    Alicia machte Tee. Die heiße Tasse brannte in seiner Hand, die heiße Flüssigkeit versengte seine Zunge, was ihn in die Gegenwart zurückholte. Er kam sich eigenartig neu vor, verspürte eine geläuterte Zufriedenheit wie an dem Tag, als er mit Paco einen alten Stall neben der Finca abgeschliffen, repariert und frisch gestrichen hatte, sodass er als fester weißer Würfel in der dunkelbraun verbrannten Landschaft stand. Falcón hatte ihn fotografiert, weil er für ihn etwas von der Schlichtheit großer Kunstwerke hatte.
    »Ich habe mich nie an den Schluss erinnern können«, sagte er. »Ich habe immer aufgehört, bevor ich zu ihren sich entfernenden Absätzen gekommen bin.«
    »Und jetzt wissen Sie sicher auch, Javier, dass es nicht Ihr Fehler war, dass sie nicht zurückgekommen ist?«
    Er nickte.
    »Wissen Sie, was Sie heute Abend getan haben, Javier?«
    »Ich nehme an, Sie würden sagen, ich hätte einen Augenblick noch einmal durchlebt.«
    »Und ihn in seinem normalen Licht betrachtet«, sagte sie. »So funktioniert der Prozess. Wenn wir schmerzhafte Erinnerungen leugnen, gehen sie nicht weg. Wir verstecken uns bloß vor ihnen. Sie haben gerade den ersten Erfolg in der schwersten Ermittlung Ihres Lebens erzielt.«
    Seltsam erfrischt fuhr er zur Calle Bailén zurück, als hätte er sich körperlich verausgabt und dabei alle Gifte aus seinem Körper herausgeschwitzt. Durch das stille dunkle Haus ging er zum Patio mit seiner klaren Pupille aus glänzendem schwarzen Wasser. Er schaltete das Licht in dem gewölbten Säulenkreuzgang an und betrat mit zitternden Händen das Arbeitszimmer. Sein Blick schwebte über dem Schreibtisch mit den verstreuten Fotos und dem Porträt seiner Mutter mit ihren Kindern. Dann ging er zu dem alten grauen Aktenschrank, schloss ihn auf und

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