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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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entnahm einen dicken, unter dem Buchstaben I abgelegten Ordner. Er setzte sich mit dem Ordner an den Schreibtisch und kämpfte gegen seine Schuldgefühle an, wohl wissend, dass ihn diese nicht vom nächsten Schritt abhalten würden. Er nahm 15 Schwarzweiß-Abzüge heraus und legte sie mit dem Bild nach unten nebeneinander auf den Schreibtisch, bevor er sein Spiegelbild in einem Glasrahmen an der Wand fragte: »Wie neu bist du?«
    Er drehte das erste Foto um. Inés lag bäuchlings nackt auf einem Seidenlaken und drehte sich, das Kinn auf ihre Faust gestützt, zu ihm um. Ihr Haar fiel lang über ihren Rücken. Falcón schloss die Augen, als er den sanften Schmerz spürte. Er wendete das nächste Foto und öffnete die Augen. Es schnürte ihm die Kehle zu. Inés lag bis auf einen Seidenschal über den Schultern wieder nackt in den Kissen und blickte mit unverhülltem Begehren in die Kamera. Sie hatte die Schenkel gespreizt und entblößte ihre rasierte Scham. Er stand im gleichen Zustand hinter der Kamera. Die wunderbare Erregung, als sie sich gegenseitig rasiert hatten, ihr haltloses Gekicher über ihre zittrigen Hände. Er erinnerte sich, wie strahlend jener Tag gewesen war, an die sengende Hitze jenes prallen Nachmittags, das helle Licht, das durch die Ritzen der Fensterläden fiel und das dunkle Zimmer erleuchtete, sodass sie einander im Spiegel betrachten konnten. Sie waren allein in dem großen Haus gewesen, und als ihnen zu heiß geworden war, hatte er sie nach unten getragen, noch immer mit ihr vereinigt, ihre Schenkel um seine Hüften, die Knöchel über seinen Pobacken verschränkt, und sich mit ihr in das kühle Wasser des Brunnens sinken lassen.
    Es wurde unerträglich, sodass er die Akte wieder weglegen und den Schrank abschließen musste. Er betrachte den grauen Metallbehälter seiner Erinnerung und dachte, dass Alicia Recht hatte. Man konnte die Dinge nicht wegschließen. Man konnte sie nicht zwanghaft ordnen, verpacken, unter I ablegen und hoffen, sie damit gebannt zu haben. Keine Ordnung der Welt konnte den Verstand daran hindern, weiter darin herumzustochern. Deswegen pusteten sich die Verzweifelten wohl ihr Gehirn weg …
    Er dachte an seine heutige Sitzung mit Alicia zurück und war sich nicht sicher, dass er heute das erreicht hatte, was die Psychiaterin ihm zutraute. War er wirklich nicht der Grund dafür gewesen, dass Mercedes nicht zurückgekommen war? Er war verantwortlich, und dieser Gedanke trieb ihn in seinem Mantel hinaus in die Nacht, wo die Luft feucht war und die Pflastersteine vom leichten Regen glänzten. Er ging zur Plaza del Museo und fand es eigenartig tröstlich, unter den dunklen, tropfenden Bäumen auf und ab zu laufen.
    Kurz nach ein Uhr nachts hielt ein Taxi an der Kreuzung der Calle San Vicente und Calle Alfonso XII. Inés stieg aus und wartete auf dem Bürgersteig. Calderón saß auf der Rückbank und bezahlte den Fahrer. Mit nassen Haaren trat Falcón aus dem Schatten der Bäume und verbarg sich hinter dem Kiosk auf der Plaza.
    Calderón nahm Inés’ Hand. Sie starrte die Straße hinauf und hinunter und ließ ihren Blick über die Plaza schweifen, bevor die beiden sich umdrehten und die Calle San Vicente hinaufgingen. Falcón rannte geduckt über den Platz und suchte den Schatten auf der anderen Straßenseite, wo er den Liebenden im Schutz der geparkten Wagen weiter folgte. Sie blieben stehen. Calderón zog seine Schlüssel aus der Tasche. Inés drehte sich um und sah Falcón wie gelähmt zwischen einem Wagen und einer Häuserwand stehen. Er duckte sich und stürzte zum nächsten Hauseingang, wo er sich mit hämmerndem Herzen in den Schatten der Wand drückte. Inés sagte Calderón, er solle schon nach oben gehen, dann klapperten ihre Absätze auf dem Pflaster, bis sie kurz vor ihm stehen blieb.
    »Ich weiß, dass du das bist«, sagte sie.
    Das Blut rauschte in seinen Ohren.
    »Und es ist nicht das erste Mal, dass ich dich gesehen habe, Javier.«
    Er kniff die Augen zu, wie ein Kind, das seine Entdeckung und Bestrafung fürchtet.
    »Dein Gesicht taucht ständig aus der Dunkelheit auf«, sagte sie. »Du folgst mir, und das werde ich nicht dulden. Du hast mein Leben schon einmal zerstört, und ich werde nicht zulassen, dass du es wieder tust. Ich warne dich: Wenn ich dich noch einmal sehe, gehe ich schnurstracks zum Gericht und beantrage eine Verfügung, die es dir verbietet, auch nur in meine Nähe zu kommem. Hast du mich verstanden? Ich werde dich so demütigen wie du

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