Der Blinde von Sevilla
Nachmittag ist heiß. Wir beginnen wie gewohnt, schweigend zu arbeiten, bis meine Konzentration nachlässt und sie durchs Zimmer streift auf der Suche nach etwas, was sie noch nicht gesehen hat. Zwischen den Pinseln und Farbtöpfen auf dem Tisch findet sie einen Brocken Haschisch und riecht daran. Sie weiß, was es ist, hat es jedoch noch nie probiert. Sie fragt, ob wir etwas rauchen können. Ich habe sie bisher noch nicht einmal eine Zigarette rauchen sehen, trotzdem bereite ich die Hookah für uns vor. Nach einigen Minuten beschwert sie sich, dass nichts passiert. Ich sage ihr, dass sie geduldig sein soll, und sie stöhnt leise, wie sie es in meiner Fantasie bei einer ersten sexuellen Berührung tun würde. Ihr Blick wirkt distanziert, als habe sie sich in ihren eigenen Kopf zurückgezogen. Sie leckt sich langsam und sinnlich die Lippen, und ich möchte meine darauf drücken. Ich schlendere umher und beobachte, wie sich das Licht im Zimmer verändert. P. sagt: »Ich finde, du solltest mich malen, wie ich wirklich bin.« Das habe ich seit Wochen versucht. Mit schnellen, flüssigen Bewegungen steht sie auf, zieht ihre Bluse aus, lässt ihren Rock fallen, Öffnet ihren Büstenhalter und schlüpft aus ihrer Unterwäsche. Ich bin sprachlos. Sie steht direkt vor mir, ihre langen dunklen Haare auf den nackten Schultern, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, die das Dreieck ihres Schamhaars rahmen. Sie legt eine Fingerspitze auf ihre Schulter und streicht dann langsam über ihre spitzen braunen Brustwarzen, die bei der Berührung hart werden. Mit den Fingern zeichnet sie die Konturen ihres Körpers nach. Wir sind beide so gebannt von der Sinnlichkeit des Augenblicks, dass ich denke, es wären meine Finger. »Das bin ich«, sagt sie. Ich packe ein Stück Holzkohle und Papier, über das meine Hände in kühnen, fließenden Bewegungen hin- und herhuschen. Binnen weniger Minuten muss ich sie sechs, sieben, acht Mal gezeichnet haben. Jedes Mal wenn ich mit einer Skizze fertig bin, lasse ich das Blatt zu Boden gleiten. Sie hält ihre Pose, nackt und schön mit dem überlegenen Selbstbewusstsein vollkommener Weiblichkeit, und es ist jenes mysteriöse Wesen, das ich »sehe« und nun auch zeichnen kann. Dann sind wir, wie es bei Haschisch manchmal passiert, ganz plötzlich in einer anderen Stimmung. Sie zieht sich wieder an und will gehen, während ich inmitten der Zeichnungen zu meinen Füßen dastehe. Sie blickt auf die Skizzen hinunter und dann zu mir auf: »Jetzt weißt du es«, sagt sie, und ihre Lippen streifen über meine, sanft wie Zobel und kühl wie Wasser. Noch Stunden später spüre ich die elektrisierende Berührung ihrer Zungenspitze auf meiner.
20. September 1946
Bei meiner Rückkehr aus Tarragona erfahre ich, dass P. mit ihrer Mutter zur Beerdigung ihrer Tante nach Spanien gereist ist. Der Arzt weiß nicht, wann sie zurückkommen. Ich fühle mich gleichzeitig beraubt und seltsam frei. Am Abend kommen Ahmed und sein Freund vorbei, und ich bin in Feierlaune. Es folgt eine Nacht reinen Hedonismus.
23. September 1946
Ich zeige Carlos die Kohlezeichnungen von P. und er ist verblüfft. Zum ersten Mal sagt er etwas über meine Arbeit und zwar »außergewöhnlich«. Als wir später gemeinsam aus der Wasserpfeife rauchen, sagt er: »Ich sehe, dass die Schmelze begonnen hat.« Ich blicke ihn an, als wüsste ich nicht, wovon er redet. Er sagt, dass er mir andere Jungen vorbeischicken wird. »Ich will nicht, dass du anfängst, dich zu langweilen.« Ich sage gar nichts.
30. Oktober 1946
Noch immer kein Wort von P. und nun ist auch ihr Vater nach Spanien aufgebrochen. Die einzige Adresse, unter der ich es versuchen könnte, ist Granada.
R. hat ein Grundstück an einen Amerikaner verkauft, der ein Hotel darauf bauen will. Eine der Verkaufsbedingungen lautet, dass wir die Bauarbeiten ausführen. Es ist unser erster großer Auftrag in der Baubranche. Ich möchte an der Planung beteiligt werden, doch R. besteht darauf, dass ich Kunst und Arbeit trenne. »Jeder, der mit mir zu tun hat, kennt dich als meinen Sicherheitsberater … da kann ich dich doch nicht auch noch die Empfangshalle entwerfen lassen.«
23
Freitag, 20. April 2001, Falcóns Haus,
Calle Bailén, Sevilla
Sich durch das Vergessen zu kämpfen, war harte Arbeit. Wie konnte Schlafen derart mühsam sein? Vor sich hin brabbelnd wie ein alter Idiot, den im Wartesaal des Todes keiner besuchte, tauchte er wieder an die Oberfläche. Sein Handy klingelte und
Weitere Kostenlose Bücher