Der Blinde von Sevilla
sprühte Funken durch seine Schädelknochen. Sein Mund war trocken wie Knochenmehl. Das Klingeln hörte auf, und er sank zurück in das Filzgrab pharmazeutischen Schlafes.
War es Stunden später oder bloß Minuten? Das Trillern des Handys schien in seinem Kopf zu vibrieren. Er wachte auf, tastete wild um sich, fand den Lichtschalter und das Telefon.
»Inspector Jefe?«
»Haben Sie schon einmal angerufen?«
»Nein, Inspector Jefe.«
»Was ist los?«
»Wir haben gerade Meldung von einer weiteren Leiche bekommen.«
»Eine weitere Leiche?«, fragte er. Sein Gehirn fühlte sich an wie Watte.
»Ein Mord. Genau wie bei Raúl Jiménez.«
»Adresse?«
»Calle de Colombia, Nummer 25.«
»Die Adresse kenne ich«, sagte er.
»Das Haus gehört Ramón Salgado, Inspector Jefe.«
»Ist er das Opfer?«
»Das wissen wir noch nicht genau. Wir haben eben einen Streifenwagen hingeschickt. Ein Gärtner hat die Leiche von außen durch das Fenster entdeckt.«
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach sieben.«
»Alarmieren Sie sonst niemanden vom Morddezernat. Ich komme selbst«, sagte er. »Sie sollten allerdings Juez Calderón benachrichtigen.«
Der Name durchfuhr ihn wie ein Messerstich, als er auflegte. Er duschte mit hängendem Kopf, noch immer geschwächt von Inés’ brutalen Worten der vergangenen Nacht. Die Vorstellung, Calderón gegenüberzutreten, ließ ihn beinahe aufschluchzen. Er rasierte sich und musterte fragend sein Gesicht im Spiegel. Sie würden nicht darüber sprechen. Natürlich nicht. Wie konnten zwei Männer so etwas zwischen sich offen legen? Dies war das Ende seiner Beziehung zu Calderón. »Sachen … von denen du nicht mal träumen könntest.«
Er hielt den Kopf unter kaltes Wasser, nahm eine Orfidal, zog sich an und stieg in den Wagen. An der ersten roten Ampel hörte er seine Mailbox ab. Eine Nachricht von 2.45 Uhr. Sie begann mit Musik, die er als das Adagio von Albinoni erkannte. Daneben konnte er die gedämpften, verzweifelten Laute eines geknebelten Menschen hören, der versuchte, zu schreien oder zu flehen. Möbel wurden auf einem Holzboden hin und her gerückt, während die Musik anschwoll und die Geigen den unerträglichen Schmerz des Verlustes in neue Höhen trieben. Dann sagte eine Stimme leise: »Du weißt, was zu tun ist.«
Ein schreckliches Gurgeln und Rasseln, wie es nur ein zugeschnürter Hals hervorbringen konnte, drang durch die Musik. Der Kampf ging weiter, das Adagio strebte seinem emotionalen Höhepunkt entgegen, das Möbelrücken wurde hektischer, bis es nach einem lauten Krachen plötzlich still war. Dann setzten die Geigen noch höher wieder ein, und die Nachricht endete.
Hinter ihm hupte es, er gab Gas und fuhr am Fluss entlang bis zur nächsten roten Ampel. Von dort rief er die Jefatura an und ließ sich mit dem Streifenwagen verbinden. Sie hatten nach wie vor keinen Zutritt zum Haus, bestätigten jedoch, dass in einem großen Zimmer auf der Rückseite des Hauses mit Zugang zu Veranda und Garten eine Leiche auf dem Fußboden lag. Die Leiche war an einen auf der Seite liegenden Stuhl gefesselt, und auf dem Boden war viel Blut. Er trug ihnen auf, das Hausmädchen aufzutreiben und die Nachbarn nach einem möglichen Ersatzschlüssel zu fragen.
Am Parque de María Luisa bog er in die vom Fluss wegführende Avenida de Eritaña und fuhr an der nur wenige hundert Meter von Ramón Salgados Haus entfernt liegenden Polizeiwache und der Guardia Civil vorbei.
Als er eintraf, war noch immer kein Schlüssel zur Hand; kurz nach ihm hielten ein Leichenwagen sowie Calderón und Felipe und Jorge von der Policía Científica am Tatort.
Um 7.20 Uhr fand ein Nachbar einen Ersatzschlüssel, und Falcón und Calderón betraten das Haus. Beide trugen Gummihandschuhe. Sie gingen direkt zu dem großen Zimmer auf der Rückseite. Bücherregale säumten die Wände. In der Mitte stand ein Schreibtisch aus einer dicken Glasscheibe, die auf zwei schwarzen quadratischen Holzblöcken lag. Darauf stand ein eingeschalteter iMac. An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen hochwertige Reproduktionen der vier Falcón-Akte, und zwischen dem Schreibtisch und der Wand lag Ramón Salgado auf der Seite, an seinen schwarzen Ledersessel ohne Armlehnen gefesselt. Ein Handgelenk war unter dem Stuhl eingeklemmt, das andere an das hintere Stuhlbein gebunden. Ein nackter Knöchel war an das Vorderbein des Stuhles gefesselt, der andere ragte, von einer Schlinge um den dicken Zeh gehalten, hoch in die Luft. Von der Schlinge
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