Der Blinde von Sevilla
Wir stehen voreinander. Körperlich habe ich mich im Griff, doch geistig bin ich völlig durcheinander. Sie sagt mir, ich solle auf und ab gehen. Als ich das tue, spüre ich keinerlei Schmerz, nur ein dumpfes Pochen in meinen Hoden. Sie sagt, ich solle weitergehen. Bewegung sei das Geheimnis eines gesunden Rückens. Ich darf mich nicht hinsetzen, um zu malen oder zu zeichnen. Sie geht, und ich rauche Haschisch, bis ich das Gefühl habe, davonzufließen wie grünes Olivenöl.
Später taucht Ahmed mit einem Freund auf. Dieser Junge ist ein ganz schöner Draufgänger. Ich frage mich, ob C. ihn in einer Art künstlerischem Experiment dazu anstachelt. Während P. und ich körperlich so spröde sind, kennen diese Jungen keine Hemmungen. Ich rauche, und sie bieten mir eine Vorstellung, bei der sich ihre jungen muskulösen Körper ineinander verwickeln wie Seile. Dann wenden sie ihre Aufmerksamkeit mir zu. Die Entladung kommt explosionsartig, und sie kichern wie Kinder, die um einen Brunnen spielen. Bevor sie gehen, drückt Ahmed mir eine Dattel zwischen die Zähne. Ich liege da und lasse die träumerische Süße in mich sickern, satt und zufrieden wie ein schlummernder Pascha.
11. August 1946, Tanger
Man hat mir zugetragen, dass sich zwei meiner Legionäre in einem Hotelzimmer in der Stadt um eine Geliebte gestritten haben. Es war ein langer und blutiger Kampf, und hinterher war der Boden des Hotelzimmers glitschig wie der einer Metzgerei. Einer meiner Legionäre ist tot, die Geliebte schwer verwundet und der andere Legionär im Knast. Ich bitte den Polizeipräfekten, die Geliebte sehen zu dürfen, weil das Ganze sich zu einem internationalen Zwischenfall auswachsen könnte, wenn sie stirbt; er sagt mir, ich solle mir keine Sorgen machen, weil die »Geliebte« ein einheimischer Junge sei. Er zuckt mit den Schultern, zieht die Augenbrauen hoch und breitet die Hände aus … es la vida.
Ich zahle ein Schmiergeld, und der Legionär wird unter der Bedingung freigelassen, dass er die Internationale Zone sofort verlässt. Also bringe ich ihn nach Tetuán und gebe ihm ein wenig Geld. Auf der Fahrt erzählt er mir, dass er mit der División Azul in Russland war, bei der Legión Española de Voluntarios geblieben ist und sich nach ihrer Auflösung der SS angeschlossen hat. Er war mit dem berüchtigten Hauptmann Miguel Ezguera Sánchez zusammen, als die Russen Berlin stürmten. Er zeigt mir eine Hand voll der Leitwährung jener Endzeit: Zyankalikapseln. Zwei von ihnen schenkt er mir als Souvenir. Novio de la muerte – eine bizarre Art, sich zu bedanken.
1. September 1946, Tanger
R. hat einen Kredit aufgenommen und zwei weitere Boote gekauft. Ich war noch einmal in Ceuta und habe weitere Legionäre rekrutiert. Wir bilden sie aus, die Boote zu steuern, und bezahlen sie gut dafür. Sie mögen ihre Arbeit. Sie dürfen nach wie vor eine Waffe tragen und verspüren den Hauch des Abenteuers, auch wenn sich wegen unseres gewalttätigen Rufes niemand in unsere Nähe traut. Die Piraten suchen sich die kleinen Fische aus. Ich bin jetzt von entscheidender Bedeutung für unser Unternehmen, weil Vertrauen ein rares Gut ist. Der starke Bund zwischen mir und den Legionären bedeutet, dass wir uns auf sie verlassen können und dass sie uns nicht bestehlen. Das befreit R. und mich von der Plackerei, die Boote selbst zu führen. R. investiert in Grundstücke. Wir bauen, und ich muss die Baustellen sichern. Mit den endlos eintrudelnden Strömen von Bargeld aus dem Schmuggel spekuliert R. auf dem Gold- und Devisenmarkt. Ich verstehe diese Märkte nicht und habe auch keine Lust, mich damit zu beschäftigen.
Nachdem Barbara Hutton, die Woolworth-Erbin, im Sidi-Hosni-Palast ihre Residenz aufgeschlagen hat, wird Tanger die neue Côte d’Azur werden, erklärt R. mir. Er hat vor, noch stärker in Immobilien zu investieren und »Hotels für all die Leute zu bauen, die herkommen werden, um die Hände in unseren Überfluss zu tauchen«. Er hat mir auch erzählt, dass La Rica den Palast für 100000 Dollar gekauft hat – eine ziemlich unvorstellbare Summe, der wir Bewohner von Tanger nun nachträumen. Der Caudillo, wie General Franco jetzt genannt wird, hatte 50000 Dollar geboten. Wahrscheinlich sitzt er jetzt in seinem El-Pardo-Palast und kocht vor Wut.
3. September 1946, Tanger
P. kommt ein weiteres Mal, um Modell zu sitzen. Schon als ich ihr die Tür öffne, sehe ich die Herausforderung in ihrem Blick, aber auch Spott und Belustigung. Der
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