Der Blinde von Sevilla
wussten genau, wo wir waren. Mein Vater hatte es ihnen gesagt und ihnen gleichzeitig eingeschärft, es niemandem zu verraten, der aus Tanger kommt, auf den deine Beschreibung passt und der Fragen nach seiner Tochter stellt.
Ich: Das verstehe ich nicht.
P.: Er wollte nicht, dass ich dich je wieder sehe.
Ich: War es wegen meiner … ich meine … hatte es mit den Zeichnungen zu tun? Hat er davon erfahren? Dass du mir Modell gestanden hast …?
P.: Nein. Das war eine Privatsache zwischen dir und mir.
Ich: Was ist dann passiert? Ich wüsste nicht, wie ich ihn verärgert haben könnte. Wir haben sowieso immer nur über meinen Rücken gesprochen.
P.: Mein Vater spricht Arabisch.
Ich: Natürlich, er war in Melilla. Wo ist dein Vater … ich muss mit ihm reden.
P.: Mein Vater ist tot.
Ich: Das tut mir Leid.
P.: Er ist ein halbes Jahr nach meiner Mutter gestorben.
Ich: Du hast viel durchgemacht.
P.: Ich habe 18 Monate getrauert. Es hat mich älter und härter gemacht.
Ich: Du siehst immer noch aus wie vorher. Es steht dir nicht ins Gesicht geschrieben.
P.: Wie gesagt, mein Vater spricht oder sprach vielmehr Arabisch, und weil er auch einige der Dialekte der Riffbewohner beherrschte, hat man ihn gebeten, an einem Vormittag in der Woche die Armen in den chabolas am Stadtrand zu behandeln. Die amerikanische Frau, La Rica, Señora Hutton, hatte Geld für Medikamente und Nahrung gespendet. Er hat sich freiwillig gemeldet. Er behandelte die üblichen Symptome unterernährter Menschen, begegnete jedoch auch einer überraschenden Zahl von Verstümmelungen. Abgeschnittene Ohren, Finger und Daumen, gespaltene Nasenlöcher. Niemand wollte ihm erzählen, wie er sich diese Verletzungen zugezogen hatte, bis er eine Frau behandelte, die in der Woche zuvor schon mit ihrem Sohn da gewesen war, der ein Ohr verloren hatte. Sie schämte sich, sich von einem Mann behandeln lassen zu müssen, doch ihre Schmerzen waren so groß, dass sie nicht anders konnte. Er fragte sie nach ihrem Sohn und warum niemand ihm erzählen wollte, was passiert war. »Sie reden nicht, weil es Ihre Leute sind, die das tun«, sagte sie. Mein Vater war perplex. Sie erzählte ihm, dass die Jungen stehlen müssten, um nicht zu verhungern, von den Verletzungen, die sie erleiden, um ihre Familien zu ernähren, und von den daraus resultierenden Todesfällen. Mein Vater war entsetzt und fragte, wer so etwas tat. »Die Männer, die die Lagerhäuser bewachen.«
Ich schweige. Mein Innerstes ist gefroren. Meine Brust ist eine Eishöhle, in der der kälteste Wind weht. Meine Muse ist zu mir zurückgekehrt, um mir zu sagen, warum sie nie wieder mit mir reden kann.
P.: Eines Tages wurde ein Junge mit einer entzündeten Wunde in die Praxis gebracht. Das war ungewöhnlich, doch mein Vater war gerührt von seinem Mut und der Tapferkeit, mit der er seine Schmerzen klaglos aushielt. Der Junge erholte sich, und mein Vater stellte ihn im Haus an. Eines Mittags war er verschwunden. Wir suchten ihn im ganzen Haus. Er kauerte in einer Ecke der Waschküche. Alles, was er herausbrachte, war: »Ist er weg? Ist er weg?« In seinen Augen stand die nackte Angst. Wir fragten ihn, vor wem er Angst hätte, und er sagte nur: »El Marroquí.« Am nächsten Tag geschah das Gleiche wieder. Mein Vater konsultierte sein Behandlungsbuch, und seine beiden einzigen Patienten an jenem Tag waren Señor Cardoso, ein 82jähriger Mann, und … du.
Am nächsten Tag ging er mit dem Jungen zum Petit Soco. Du saßest auf deinem üblichen Platz im Café Central. Und der Junge erklärte meinem Vater, dass du derjenige warst – El Marroquí.
Ich bin unfähig, mich zu rühren. Ihre grünen Augen ruhen auf mir. Ich weiß, dass dies der entscheidende Augenblick ist. Ich weiß es, weil die Existenz vorbeirauscht, als würde unser beider Leben in diesem einzigen Moment komprimiert. Ich beschließe, dass ich den Augenblick ignorieren werde. Ich werde lügen. So wie ich alle belogen habe – C.B. die Königin der Kasba, die Contesse de Blah und den Duque de Blub. Ich werde lügen. Ich bin Francisco Falcón. Nein. Er ist Francisco Falcón. Mich gibt es nicht mehr.
R: Warst du verantwortlich für das, was diesen Menschen geschehen ist?
Ihre grünen Augen bedrängen mich, flehen mich an, und ich weiß, dass ich verloren bin. Ich betrachte meine Hände, in denen ich das Wasser des Lebens halte, sehe es spöttisch funkeln, während es mir durch die Finger rinnt.
Ich: Ja, ich habe diese Dinge getan. Ich bin
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