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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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serviert. Der Innenhof ist von einem Gang umfriedet wie in einem Kloster. Ohne dass ich es bemerkt habe, sind in dem Gang Kerzen entzündet worden, und ich sehe junge Männer darin herumlungern. C. plappert von der Subversion der Sinnlichkeit, der Anarchie der Verworfenheit. Ich höre nicht zu, sondern betrachte die Muskeln, die sich auf den Schenkeln der Jungen abzeichnen, wenn sie im Zwielicht einherschlendern. Ich bin erregt. C. gibt mir eine Zigarette. Sie ist mit Haschisch gefüllt, das in mein Blut dringt wie Sahne. Meine Lippen umschmiegen den Filter. Die Nacht senkt sich über mich. Weitere Jungen schweben vorbei. C. verschwindet mit einem von ihnen. Sie fassen mich an den Armen und führen mich fort. Sie ziehen mich aus und kneten meinen Körper. Sie massieren meinen Widerstand weg. Bei ihrer Berührung breche ich zusammen.
    Als ich wieder zu mir komme, schmiegen sich meine Lippen an den nackten Rücken eines Jungen. Ich ziehe mich eilig an und kehre in den Hof zurück. C. ist nirgendwo zu sehen. Ich gehe nach Hause. Im Bad ziehe ich mich aus und schrubbe meine Genitalien, bis sie wund sind. Nackt stehe ich am Fuße meines Ehebettes und blicke auf meine schlafende Frau herab. Was für ein Mann bin ich?
    Sie rührt sich unter meinem Blick und hebt ihren Kopf von dem Kissen. »Mein Mann«, sagt sie und lächelt. Sie streicht mit der Hand über den Platz an ihrer Seite. Ich lege mich zu ihr. Was für ein Mann bin ich?

25
    Samstag, 21. April 2001, Falcóns Haus,
    Calle Bailén, Sevilla

    Welcher Bestandteil von Schlaftabletten sorgte dafür, dass die Träume unterdrückt werden? War es der gleiche, der einem den Mund austrocknete und das Gehirn zu Watte werden ließ? Falcón lag im Dunkeln und presste die Finger auf sein starres Gesicht wie ein Boxer, der die Schäden des vergangenen Abends inspiziert. Und was war mit den Schwarzen Löchern in der Erinnerung? Der Gedanke rief ihm Alicias Worte vom Abend zuvor ins Gedächtnis.
    »Eine Neurose ist wie ein Schwarzes Loch im All. Es ist bizarr und unerklärlich. Wie kann etwas so Katastrophales wie die Implosion eines Sterns passieren? Wie kann etwas, das einem Menschen geschehen ist, so schmerzhaft sein, dass wir uns weigern, uns daran zu erinnern und diesen Teil des Gehirns eher implodieren lassen?«, hatte sie gefragt. »Und die Analogie geht noch weiter, weil der implodierte Stern eine so starke Anziehungskraft hat, dass er permanent weitere Materie in seine negative Welt saugt. Genauso wie eine Neurose alles Positive in Ihrem Leben anzieht, verzehrt und anti-positiv macht. Sie haben mir einige wichtige Beziehungen in Ihrem Leben geschildert, die mit Ihrer ersten ernsthaften Freundin Isabel Alamo und mit Ihrer Ex-Frau Inés. Es waren beides starke Beziehungen mit Leidenschaft auf beiden Seiten, aber sie konnten sich der Anziehungskraft des Schwarzen Loches in Ihnen nicht entziehen.«
    »Mit Inés ging es bloß um Sex. Das weiß ich jetzt«, sagte er.
    »Wirklich?«, fragte Alicia. »Halten Sie es nicht für möglich, dass Sie selbst es waren, der es auf dieser Ebene belassen wollte? Sex kann man bewältigen. Liebe ist komplexer.«
    »Ich weiß, dass es bloß Sex war. Deswegen leide ich ja auch unter dieser unlogischen Eifersucht.«
    »Normalerweise ist das reine Begehren irgendwann ausgebrannt.«
    »Genau das ist ja passiert«, sagte er. »Das Begehren war ausgebrannt, und nichts war mehr übrig.«
    »Bis auf die Tatsache, dass Sie immer noch fasziniert von ihr sind. Sie wollen sie noch immer. Ein Teil von Ihnen hat noch nicht mit ihr gebrochen … was einer der Gründe dafür ist, warum Sie mit diesem Staatsanwalt nicht über sie reden können.«
    Diese Gedanken erschöpften ihn. Er war zu müde dafür. Er stieg aus dem Bett, und das Tagebuch seines Vaters, das er vor dem Einschlafen gelesen hatte, fiel dumpf zu Boden. Er empfand Mitleid und Ekel, war überrascht über die Schwäche seines Vaters, diese erbärmliche, ihm bisher unbekannte Facette einer Persönlichkeit. Wie stark war seine Mutter gewesen, wie leidenschaftlich hatte sie an seinen Vater geglaubt, und wie erbärmlich war es ihr vergolten worden von seiner Ambivalenz und sexuellen Ruhelosigkeit?
    Falcón zog seine Jogging-Klamotten an und ging nach unten. Das Telefon blinkte ihn an. Er spulte die Nachricht zurück, und Pacos Stimme berichtete ihm, dass der Torero Pedrito de Portugal sich beim Training das Knie verdreht hatte, sodass es jetzt am Montagnachmittag eine Lücke gab. Er war sich sicher,

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