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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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ziemlich dunkel; ich weiß, dass sie unvermittelt darauf stoßen und wie eine Motte vom Licht davon angezogen werden wird. Und ich irre mich nicht. Ja, ich meine, sicher gehört zu haben, dass sie beim ersten Anblick der Zeichnung ein leises, sinnliches Stöhnen ausstößt. Sie geht auf die Zeichnung zu, und in ihren Augen sehe ich, dass sie verloren ist. Mein Werk ist vollbracht. Ich bleibe zurück und lasse sie alleine weitergehen. Zehn Minuten rührt sie sich nicht von der Stelle, bis sie schließlich den Kopf neigt und sich abwendet. An der Haustür schimmern ihre Augen. »Vielen, vielen Dank«, sagt sie, »ich hoffe, Sie werden mir die Ehre erweisen, demnächst an einem meiner Abendessen teilzunehmen.« Sie hält mir ihre Hand hin. Ich verbeuge mich und küsse sie.

    6. November 1946, Tanger
    Der Tag beginnt mit einer Einladung zum Dinner von B.H. Eine Stunde später kommt Charles Brown. Ich koche einen Pfefferminztee und rauche eine Zigarette. Das Gespräch ist lang und weitschweifig und umfasst auch Fragen nach meiner Vergangenheit, über die ich gewaltige Lügen verbreite. Spontan ist mir der Gedanke kommt, dass es das Beste ist, wenn mich niemand wirklich kennt – vielleicht einschließlich meiner selbst –, weshalb ich eine mysteriöse Aura um mich aufbauen werde, die das Markenzeichen meines Werkes werden wird. Ich verliere mich in dem Gedanken, dass man nach meinem Tod mühevolle akademische Forschungen anstellen wird, um den wahren Francisco Falcón zu entdecken (Voilà: Die Verwandlung ist bereits perfekt; ich habe das ohne Nachdenken hingeschrieben – Francisco González ist verschwunden), dass man eine Zwiebelschale nach der anderen häuten wird, um zu dem einen Körnchen Wahrheit vorzudringen. Doch wie jeder weiß, gibt es in einer Zwiebel kein Körnchen Wahrheit. Wenn man die letzte Hülle öffnet, bleibt das Nichts – keine noch so geringe Botschaft. Es ist nichts. Ich bin nichts. Wir sind nichts. Diese Erkenntnis erfüllt mich mit enormer Stärke. Ich fühle eine gewaltige Woge unmoralischer Freiheit über mich hinwegbrausen. Für mich gibt es keine Regeln. Überrascht finde ich zurück in die Gegenwart, in der C.B. mich fragt, ob ich einen Verkauf der Zeichnung nicht doch in Erwägung ziehen würde. Ich sage Nein. Er fragt mich, ob ich das Bild wenigstens zu dem Abendessen mitbringen könne, um es den anderen Gästen zu zeigen. Das würde mich psychologisch schwächen, also lehne ich ab. Als ich ihn zur Tür begleite, sagt C.B.: »Es ist Ihnen doch klar, dass Mrs. Hutton bereit wäre, eine beträchtliche Summe für das Werk zu zahlen.«
    »Niemand hegt irgendwelche Zweifel an den Möglichkeiten der Besitzerin des Sidi-Hosni-Palastes«, sage ich.
    Er hält seinen Trumpf bis zum letzten Moment zurück.
    »500 Dollar«, sagt er, geht die schmale Straße hinunter und biegt links Richtung Kasba ab.

    11. November 1946, Tanger
    Ich hätte das gestern aufschreiben sollen, als die Perfektion des Abends noch frisch in Erinnerung war. Ich bin so betrunken und aufgeregt nach Hause gekommen, dass ich etliche Pfeifen Haschisch rauchen musste, um in einen unruhigen Schlaf zu fallen. Jetzt bin ich mit schwerem Kopf aufgewacht, und meine Erinnerung ist eher flüchtig als detailgetreu.
    Ich treffe vor den Toren des Sidi-Hosni-Palastes ein und werde auf Vorzeigen meiner Einladung von einem livrierten Tanjawi in weißen Hosen hereingelassen. Dann betrete ich eine Traumwelt, in der man von Diener zu Diener weitergereicht und durch Räume und Patios geführt wird, bei deren Ausstattung der vorherige Besitzer keine Kosten gespart hat, auch wenn mir sein Name entfallen ist. Blake? Oder war es Maxwell? Vielleicht auch beides.
    Der Palast besteht aus einer Reihe von Häusern, die alle mit einem zentralen Gebäude verbunden sind, in das ich nun geführt werde. Die Wirkung ist verwirrend, magisch und mysteriös, ein Mikrokosmos des marokkanischen Geistes. Der Diener geleitet mich in einen Raum, in dem sich eine Reihe von Gästen aufführt, als wären sie auf einer Cocktailparty, während andere sich eher in einem Museum glauben. Und beide haben Recht. Ich trage einen Anzug, bin aber vom Leben im Freien sonnengebräunt, was mich von den vorwiegend eher blassen Menschen in dem Raum unterscheidet. Eine Frau hätte mich um ein Haar gebeten, ihr einen Drink zu bringen, erkennt jedoch im letzten Moment, dass ich weder Fez noch Handschuhe trage. Stattdessen fragt sie mich, aus welchem Holz der Fußboden ist. C.B. rettet mich,

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