Der Blinde von Sevilla
dass man Pepe eine Chance geben würde.
Falcón lief zum Fluss hinunter und an seinem dunklen Ufer entlang bis zum Torre del Oro. Ein Jogger nickte ihm im Vorbeilaufen zu, ein anderer hob die Hand zu einem knappen Gruß. Seit er mit dem irren Radfahren auf der Stelle aufgehört hatte, zählte er schon fast zum festen Stamm der morgendlichen Läufer. Er verlor sich in seinen Gedanken. Die albernen Tränen, die er über dem Film von Ramón und Carmen vergossen hatte, hatte er Alicia gegenüber nicht erwähnt. Woher kam nur diese Sentimentalität? In seinem Beruf war dafür einfach kein Platz, dachte er, und der Gedanke ließ ihn abrupt stehen bleiben. War das der Grund dafür, dass er bei der Polizei gelandet war? Sein Bedürfnis nach einer leidenschaftslosen Beobachtung der Katastrophen des Lebens? Er rannte nach Hause, kaufte unterwegs eine ABC und fand im Briefkasten Salgados Traueranzeige vor.
Als er sich zum Duschen auszog, war die Erleichterung, die ihm das Laufen verschafft hatte, bereits verschwunden. Sein Rücken kribbelte, und in seinem Magen hatte sich eine Grube aufgetan, die fatale Ähnlichkeit mit Alicias schwarzen Löchern hatte. Es fühlte sich an, als ob all seine positiven Gedanken davon angezogen wurden, und die Vorstellung, dass einschließlich seines gesunden Verstandes alles darin verschwinden könnte, versetzte ihn in Panik. Er nahm eine Orfidal.
Dann rief Falcón seinen Bruder an, bevor jener auf die Weide fuhr, um die Stiere zusammenzutreiben, die er am Montag für den Stierkampf nach Sevilla bringen wollte.
»Wie geht’s deinem Bein?«, fragte Falcón.
»Dem Bein geht’s gut«, beruhigte ihn Paco. »Schon irgendwelche Neuigkeiten?«
»Noch nicht.«
»Ach ja«, sagte Paco. »Wir werden am Sonntag übrigens zu acht sein.«
Schweigen.
»Du hast es vergessen, stimmt’s?«
»Ich hatte alle Hände voll zu tun«, entschuldigte sich Falcón. »Erinnerst du dich an Ramón Salgado, Papás Galeristen? Er ist gestern Morgen ermordet worden. Das plus zwei weitere Morde, da habe ich nicht …«
»Jemand hat Ramón Salgado ermordet ?«, fragte Paco.
»Genau. Er wird heute Nachmittag beerdigt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum sich irgendwer die Mühe machen sollte.«
»Nun, irgendjemand hat es getan.«
»Wie dem auch sei … wir kommen am Sonntag zu acht.«
»Hilf mir auf die Sprünge.«
»Wir kommen Sonntag zum Mittagessen in dein Haus, übernachten alle bei dir, essen am nächsten Tag in einem Restaurant am Fluss zu Mittag und gehen dann zusammen zu dem Stierkampf, gefolgt von einem Abendessen. Dienstagmorgen fahren wir zurück auf die Finca.«
»Das hatte ich vergessen.«
»Du solltest Encarnación anrufen.«
Falcón legte auf und rief tatsächlich Encarnación an, die ihm erklärte, dass sie die Zimmer vorbereiten würde und am Sonntag zwar nicht selbst kochen könnte, aber eine Nichte hätte, die für sie einspringen würde. Er solle ein bisschen Geld bereit legen, dann werde sie am späten Vormittag die Einkäufe erledigen. Also fuhr Falcón zur ATM an der Calle Alfonso XII und hob 30000 Peseten ab. Als er um neun nach Hause zurückkam, klingelte das Telefon. Es war Pepe Leal, der ihm berichtete, dass er Pedrito de Portugals Kampf bekommen hatte. Falcón bot ihm ein Zimmer an, doch Pepe wollte lieber bei seiner Mannschaft im Hotel Colón bleiben.
»Am Sonntagabend komme ich rüber«, sagte er noch. »Dann können wir uns unterhalten, du kannst mich auf Montag vorbereiten und meine Nerven beruhigen.«
Falcón erzählte ihm von Pacos berühmten retinto -Stier und spürte die Aufregung des Jungen darüber, dass er endlich eine wirkliche Chance bekam.
Um 9.30 Uhr rief Falcón Felipe an, um sich nach dem Stand von dessen Untersuchungen zu erkundigen. In Salgados Haus waren keine Fingerabdrücke hinterlassen worden. Zurzeit wurden die einzelnen Blutproben überprüft, doch bisher stammten alle von Salgado selbst. Dann wählte Falcón die Nummer des Médico Forense und fragte, wo der Obduktionsbericht blieb. Der Médico Forense erklärte ihm, dass er zum Verfassen des Berichts noch die Ergebnisse diverser Bluttests brauchte.
»Als ich das Opfer auf dem Seziertisch hatte, ist mir aufgefallen, dass er drei Blutergüsse um das rechte Auge hatte«, sagte er. »Alle anderen Blutergüssen befinden sich seitlich oder am Hinterkopf, nur diese drei sind im Gesicht und sehen außerdem ganz anders aus. Sie sind nicht durch einen scharfen, spitzen Gegenstand, sondern durch eine stumpfe
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