Der Blinde von Sevilla
verantwortlich.
Sie geht nicht. Sie sieht mich an, und ich weiß, dass ich das Richtige getan habe.
R: Meine Eltern haben diskret Erkundigungen über die Firma eingezogen, für die du gearbeitet hast. Mein Vater fand heraus, dass du ein Legionär und contrabandista warst und dass deine Brutalität bei deinen Feinden und Konkurrenten gefürchtet war. Sie haben beschlossen, mich wegzuschicken. Dass meine Tante krank wurde, war ein Zufall.
Ich: Aber warum haben sie dich gezwungen wegzugehen? Warum haben sie dir nicht einfach verboten, mich zu treffen?
P.: Weil sie wussten, dass ich mich in dich verliebt hatte.
Endlich setzt sie sich doch und fragt nach einer Zigarette. Sie kann sie kaum halten. Ich zünde sie für sie an und drücke sie ihr zwischen die Finger. Sie starrt auf den Boden. Ich erzähle ihr alles. Ich erzähle ihr von »dem Zwischenfall« (oder fast alles darüber), der mich aus dem Haus meiner Familie in die Legion getrieben hat. Ich erzähle ihr, was ich im Bürgerkrieg, in Russland, in Krasny Bor getan habe. Ich erzähle ihr, warum ich Sevilla verlassen habe und was in Tanger passiert ist … alles. Ich erzähle ihr von meiner Verzweiflung. Ich erzähle ihr, dass sie in mich passt, dass sie meine Struktur ist. Sie hört zu. Der Himmel wird dunkel. Der Wind frischt auf. Der Junge bringt neuen Pfefferminztee und eine Kerze, deren Flamme im Luftzug flackert. Nur über eine Sache spreche ich nicht. Ich erzähle ihr jede Schändlichkeit, doch von den Jungen sage ich nichts. So etwas ist nicht für das Ohr einer Frau bestimmt. Meine Geständnisse sind schon jetzt so umfassend und gewaltig, dass mich diese Verworfenheit über die Grenze treiben würde, bis zu der Erlösung noch möglich ist. Ich schließe mit meiner Arbeit, erzähle ihr, dass ich aufgehört habe zu arbeiten. Dass ich nicht in der Lage war, über die Zeichnungen hinaus fortzuschreiten. Dass ich sie brauche, damit meine Augen wieder geöffnet werden. Ich frage sie, ob sie sich an ihre letzten Worte an jenem Tag erinnert, als wir die Zeichnungen gemacht haben. Sie schüttelt den Kopf. Ich sage es ihr: »Jetzt weißt du es.«
Während ich das schreibe, liegt sie auf dem Bett, eine vage Kontur unter dem Moskitonetz. Neben ihrem Bett brennt eine Kerze mit einer langen spitzen Flamme. Sie schläft. Ich greife nach Kohle und Papier.
3. Juni 1948, Tanger
P. erzählt mir, dass sie schwanger ist. Ich lasse meine Arbeit für den Tag Arbeit sein, und wir liegen zusammen im Bett, unsere Hälse wie zugeschnürt, sodass wir nicht von der Vollkommenheit unserer gemeinsamen Zukunft und den Kindern sprechen können, die wir haben werden.
18. Juni 1948, Tanger
Nach einer amtlichen Zeremonie in der spanischen Gesandtschaft und einer kurzen Messe in der Kathedrale sind P. und ich verheiratet. R. richtet einen Empfang im Hotel El Minzah aus. Wie man es neuerdings in echtem Riviera-Stil sagt: Le tout Tanger war da. Wir werden bei unserer eigenen Hochzeit von Fremden umringt und verlassen die Feier, sobald wir können, ohne unhöflich zu sein. Mit einer Haschischzigarette verschwinden wir unter dem Moskitonetz, schweben auf unseren Zärtlichkeiten und lieben uns zum ersten Mal als Mann und Frau.
Sie ist müde und möchte schlafen. Ich lege meinen Kopf auf ihren Bauch und höre, wie sich die Zellen darin verdoppeln. Ich finde, dass es ein glückhafter Tag ist, deshalb tunke ich meinen Pinsel in Farbe und setze ein erstes sichtbares Zeichen auf die Leinwand. Ein Anfang. Ich werde nervös und beschließe, einen Spaziergang durch die Medina zur Kasba zu machen, wo ich von den Befestigungsanlagen auf das nächtliche Meer blicken und über meine Zukunft nachdenken will. Am Petit Soco werde ich von Leuten aufgehalten, die mir gratulieren und mir einen Drink spendieren wollen. Sie sind hartnäckig. Unter ihnen ist auch C. Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen. Ich lasse mich von ihm zu einem Whisky einladen. Wir reden und scherzen eine Weile, bevor ich mich verabschiede. C. läuft mir nach und fragt mich, warum ich ihn ignoriert und die Jungen weggeschickt habe. Er erklärt mir, dass ich innerlich wieder eingefroren sei, dass die Ehe etwas für Anwälte und Ärzte und das bürgerliche Leben der Feind des Künstlers sei. Ich erinnere ihn daran, wer P. ist. Wir sind scheinbar ziellos geschlendert, doch nun steuert er mich auf ein Haus zu. Er sagt, es wäre eine Bar und er wolle mir einen letzten Drink spendieren. Wir nehmen in einem Hof Platz, Getränke werden
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