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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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sie sich wie durch ein Wunder wieder trennten.
    Dann trat Pepe zu seiner faena vor, und die Menge verstummte zu der reinsten Stille, die man in Spanien kennt; der Stille aus Respekt vor dem Stier.
    Der Stier starrte Pepe mit geschlossenem Maul und bebenden Schultern an; eine rote Schärpe aus Blut spannte sich über seine Flanke bis zum Schenkel eines Vorderbeins. Pepe nahm den Stab, der die muleta zur vollen Breite spannte, und ging, das Tuch hinter seinem Rücken verbergend, langsam auf den Stier zu, der das Schauspiel geduldig betrachtete. Vier Meter von dem Tier entfernt, präsentierte ihm Pepe langsam die muleta. Der Stier nahm das Angebot an und stürmte mit gesenkten Hörnern los. Pepe schien die Bewegung des Tieres zu steuern und seine Schritte zu bremsen, und erst als die Nase des Stieres die muleta berührte, ließ Pepe ihn weiter kommen, lockte ihn vorwärts und gab so das gemessene Tempo vor. Es war ein herrlicher Anblick, wie Pepe seinen Körper wand und dehnte, elegant und kräftig wie rot glühend geschmiedetes Eisen.
    Er lockte Biensolo hin und her, und mit jedem Mal wurde ihr Tanz anmutiger, ihre Beziehung stärker, ihr gegenseitiger Respekt tiefer. Es geschah so langsam, dass das Publikum nicht mitbekam, wie die Verbindung hergestellt worden war, der Pakt beschlossen, dass Mensch und Tier dieses Schauspiel bis zum einzig möglichen Schluss zu Ende spielen würden.
    Pepe vollführte seine naturales , und Biensolo donnerte an ihm vorbei, als wollte er ganz Spanien auf die Hörner nehmen. Dann baute sich Pepe vor dem Stier auf und zeigte ihm nur eine fliesengroße Ecke der hinter seinem Rücken verborgenen muleta. Bei den Frauen im Publikum wurden Stöhnen und Angstschreie laut. Der Stier stürmte an der einsamen Gestalt vorbei, die sich wie ein Halm im Wind leicht hin und her wiegte. Ohne sich umzudrehen, zeigte Pepe dem Tier eine andere Ecke der muleta , und wieder galoppierte Biensolo dicht an ihm vorbei. Das rührte auch die Männer zu Tränen. Paco hatte die Fäuste geballt, sein Sitznachbar weinte. Vor ihren Augen materialisierte sich die unbegreifliche Schöpferkraft von Mensch und Tier im Todestanz.
    Als Pepe das gerade Schwert gegen den gebogenen Stoßdegen austauschte, war die Stille so vollkommen, dass Javier glaubte, die Schritte von Pepes schwarzen Lackschuhen auf dem Sand der plaza zu hören. Der Stier beobachtete ihn, die Vorderbeine leicht gespreizt, Bein und Schulter immer noch blutüberströmt, während sein Brustkorb sich wie ein stummer Blasebalg hob und senkte und die banderillas in seinem Rücken einen tödlichen Rhythmus klackerten. Dann kehrte sein Tanzpartner mit der muleta unter dem Arm und einem neuen tödlichen Schwert an der Hüfte zurück. Pepes langer Schatten fiel auf den Kopf des Tieres und kam näher.
    Der Stier riss die Hörner hoch, Tier und Mensch fixierten einander. Das starre Schweigen der Menge, die wusste, dass Pepe alles – Ohren, Schwanz, La Puerta del Principe – bekommen würde, wenn er Biensolo tötete – wurde noch angespannter. Pepe öffnete die muleta , und der Stoff floss zu Boden wie Blut. Der Stier schien nickend sein Einverständnis zu geben, und Pepe steuerte ihn mit mehreren kurzen Pässen an die Absperrung, wo er ihn mit ein paar Schwüngen der muleta reizte, bis der Stier genau richtig positioniert war und seine Hörner auf die Zuschauer in der Sombra richtete. Pepe, der Javier jetzt den Rücken zugewandt hatte, bewegte sich so vorsichtig, als hätte er Angst, ein schlafendes Kind zu wecken. Er hob den Degen und visierte das münzgroße Ziel zwischen den Schultern des Bullen an. Seine Gestalt wirkte kaum mehr menschlich, sondern erinnerte an einen strahlenden Vogel.
    Dann kam der Moment, und die Geschwindigkeit, mit der die beiden Kräfte aufeinander prallten, war atemberaubend.
    Doch etwas war verkehrt. Pepes Kopf schnellte hoch. Der Degen stieß auf einen Knochen und rutschte ab. Biensolo bohrte sein rechtes Horn in Pepes Oberschenkel und schleuderte ihn mit einer spöttischen Wendung des Kopfes in die Luft. Es ging so schnell, dass sich niemand rührte, als der scheinbar federleichte Torero im Aufwind trudelte und mit dem Bauch in eines der beiden triumphierend gereckten Hörner stürzte. Der Stier drängte mit gesenktem Kopf weiter und krachte so heftig in die berstenden Bretter der Absperrung, dass es dem gesamten Publikum den Atem verschlug.
    Pepes Mannschaft stürzte über die Bande. Die Stille der Menge war gebrochen, und die Frauen

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