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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Colón an und teilte ihm die Neuigkeit mit.
    Anschließend ging er nach Hause. Er war zu nichts zu gebrauchen. Seine Konzentration flatterte umher wie eine Fahne im Sturm, sein Gedächtnis siebte unzusammenhängende Bilder und Gedanken in seinen Kopf. Er schleppte sich in sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Mit jedem Schluchzen, das seine Schultern erschütterte, bebte sein ganzer Körper. Der Druck war einfach zu groß. Tränen kullerten über seine Wangen aufs Kissen. Er würgte, weil etwas Gewaltiges durch seinen Hals hinausdrängte. Dann schlief er ein. Ohne Schlaftablette. Aus reiner Erschöpfung.
    Sein Handy weckte ihn. Seine Augen fühlten sich an wie heiße Steine, seine Lider dick wie aus Leder. Paco erklärte ihm, dass sie alle bereits im Restaurant waren und er Falcóns chuletillas aufessen würde, wenn dieser nicht bald auftauchte. Falcón duschte, zog sich an und fand dabei ein wenig von seinem inneren Gleichgewicht wieder. Er fühlte sich sogar vorsichtig optimistisch, als ob durch den Zusammenbruch irgendein kleiner, aber lebenswichtiger Mechanismus repariert worden wäre.

    Während der Feria de Abril war vor dem Hotel Colón immer die Hölle los. Die Pagen standen keine Minute still, weil in endloser Folge Wagen und Minibusse vorfuhren, aus denen Manager, Promoter und Mannschaftsmitglieder stiegen. Die Fans lauerten in den Cafés gegenüber; allerdings waren es heute nicht ganz so viele wie sonst, weil keine ganz großen Namen auf der Liste standen – Pepín Liria war noch der Prominenteste, gefolgt von Vicente Bejarano und dem unbekannten Pepe Leal.
    Falcón ging zu Pepes Zimmer in einem der oberen Stockwerke. Einer von Pepes banderilleros stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt, im Korridor. Er öffnete die Tür, als würde er eine trauernde Witwe stören, murmelte Pepe etwas zu und ließ Falcón herein.
    Pepe saß auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers. Sein Hemd war aufgeknöpft und hing aus der Hose, er trug weder Jackett noch Krawatte noch Socken. Seine Haare standen ab vom vielen Raufen, und auf seiner Stirn und seiner Brust schimmerte Schweiß. Er war kalkweiß, und die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    »Du solltest mich so nicht sehen«, sagte er. Er trank einen Schluck Wasser aus der Flasche auf dem Boden, umarmte Falcón und stürzte dann würgend ins Bad. »Du hast mich mitten im Absturz erwischt, Javier«, rief er. »Ich habe den Grund meiner Angst fast erreicht. Gleich fang ich zu quatschen an, und in einer halben Stunde bin ich ein anderer Mensch.«
    Sie umarmten sich erneut, und der beißende Geruch von Erbrochenem stieg Falcón in die Nase.
    »Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Javier«, sagte Pepe. »Es ist gut. Die Dinge kommen zusammen. Ich spüre es. Heute wird mein Tag. La Puerta del Principe gehört mir.«
    Er fing tatsächlich an zu brabbeln. Sie umarmten sich ein drittes Mal, und Falcón verabschiedete sich.
    Sowohl die Bar als auch das Restaurant waren voller Menschen, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Er zwängte sich durch die Menge und arbeitete sich mit Küsschen und Umarmungen einmal um den Tisch, bevor er Platz nahm. Dann verschlang er eine Portion Thunfisch mit Zwiebeln, tunkte sein Brot in den Saft der gebackenen Paprika, knabberte an den schlanken Knochen der chuletillas und trank dazu dunkelroten Maequés de Arienzo. Er fühlte sich wieder ganz, voll und fest. Seine Nerven waren intakt. Erwischt zu werden war irgendwie befreiend gewesen, und mittlerweile war es ihm egal. Darüber hinaus hatte es ihn zur Ordnung gerufen, Pepe so voller Angst zu sehen. Er würde alles bereitwillig umarmen, einschließlich seines Schicksals.
    Um fünf Uhr machten sie sich auf den Weg durch die warmen Straßen zu La Maestranza. Der Geruch billiger und teurer Zigarren vermischte sich mit den Aromen von Aftershave, Haaröl und Parfüm. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, und es wehte nicht das leiseste Lüftchen. Die Bedingungen waren beinahe perfekt. Jetzt lag es an den Stieren.
    Die Gruppe trennte sich. Paco und Javier nahmen ihre Ehrenplätze in der Sombra ein, zwei Reihen über der Arena. Der Rest der Familie ging zu ihren Gratisplätzen in der Sol y sombra. Paco gab seinem Bruder ein mit dem Wappen der Finca besticktes Kissen. Sie atmeten die Atmosphäre von la España profunda ein. Die murmelnde Menschenmenge, der Duft von Ducados und puros; Männer mit schnurgerade nach hinten pomadisiertem Haar halfen ihren in Seide gekleideten Frauen

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