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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Sie bis auf einen einzigen zweiwöchigen Urlaub noch nicht frei genommen«, sagte Dr. Rato. »Woran haben Sie vor Übernahme des jüngsten Falles gearbeitet?«
    Leere. Panik schwappte durch seine Brust wie Äther.
    »Ich werde es Ihnen sagen, Inspector Jefe«, fuhr Dr. Rato fort. »Sie haben im vergangenen Jahr in fünfzehn Mordfällen ermittelt.«
    »Worauf wollen Sie hinaus, Doktor?«
    »Glauben Sie, dass Sie sich hinter Ihrer Arbeit verstecken?«
    »Verstecken?«
    »Selbst die hässliche Arbeit, die Sie tun müssen, hat attraktive Aspekte. Es gibt eine Routine. Es gibt Struktur. Sie haben Kollegen. Und die Arbeit ist endlos, wenn Sie wollen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie ein Jahr allein mit Papierkram füllen könnten.«
    »Stimmt.«
    »Das wirkliche Leben ist chaotisch. Beziehungen funktionieren nicht. Freunde kommen und gehen. Und in unserem Alter fangen die Menschen an zu sterben. Wir müssen uns Verlust, Veränderung und Enttäuschung stellen, doch in all dem liegt auch die Chance auf Freude. Wann hatten Sie zum letzten Mal Sex?«
    Die Frage traf ihn erneut wie ein Stoß, sodass Falcón beinahe aufgesprungen wäre und begonnen hätte, im Zimmer auf und ab zu laufen.
    »Das war keineswegs anstößig oder aggressiv gemeint«, sagte der Arzt.
    »Nein, natürlich nicht. Aber seit der Uni hat mich das niemand mehr gefragt.«
    »Keiner Ihrer Freunde hat Ihnen diese Frage gestellt?«
    Freunde, dachte Falcón. Oder auch Freundinnen. Der Gedanke, dass er keine Freunde hatte, trieb ihm beinahe Tränen in die Augen. Es erschien ihm unmöglich, dass ihm sein Leben entglitten war, ohne dass er es gemerkt hatte. Wann hatte er zum letzten Mal einen Freund gehabt? Wieder rannte er vor die weiße Wand seines Erinnerungsvermögens, bis er dachte, dass Calderón ein Freund hätte werden können.
    »Wann hatten Sie zum letzten Mal Sex?«, fragte der Arzt erneut.
    »Mit meiner Frau.«
    »Wann haben Sie sich getrennt?«
    Leere.
    »Im vergangenen Jahr«, sagte Falcón verzweifelt.
    »Monat?«
    »Mai.«
    »Es war im Juli, weshalb Sie vermutlich keinen Urlaub genommen haben«, sagte Dr. Rato. »Wann haben Sie vor Ihrer Trennung das letzte Mal miteinander geschlafen?«
    Falcón musste unter Anwendung hässlichster Mathematik nachrechnen. Wenn sie sich im Juli getrennt hatten und sie ihn davor zwei Monate nicht an sich herangelassen hatte, musste es im Mai gewesen sein.
    » Das war im Mai.«
    »Ein Jahr ohne Sex, Inspector Jefe«, sagte der Arzt. »Wie geht es Ihrer Libido?«
    Libido klingt gut, dachte er. Wie ein Privatstrand. Lass uns runter zum Libido gehen.
    »Inspector Jefe?«
    »Wahrscheinlich nicht besonders gut, wie Sie wohl schon vermutet haben.«
    Das Bild von Consuelo Jiménez, die mit hochgerutschtem Rock vor ihm saß, trat ihm wieder vor Augen. War das libidinös? Er schlug die Beine übereinander.
    Der Arzt erklärte das Treffen für beendet.
    »Das ist alles?«, fragte Falcón. »Müssen Sie mir nicht irgendetwas sagen?«
    »Ich schreibe einen Bericht. Es steht mir nicht zu, Ihnen etwas zu sagen. Das liegt in der Hand Ihrer Vorgesetzten. Ich bin nicht Ihr Arbeitgeber.«
    »Aber was werden Sie ihnen erzählen?«
    »Das ist nicht Gegenstand unseres Gespräches.«
    »Geben Sie mir eine grobe Vorstellung«, sagte Falcón. »›Stecken Sie ihn in die Klapse‹ oder ›Sagen Sie ihm, er soll Urlaub machen‹?«
    »Wir haben es nicht mit einem Fragebogen zu tun, wo man einfach nur ankreuzen muss.«
    »Werden Sie eine umfassende psychologische Untersuchung für mich empfehlen?«
    »Dies war eine Anfangsuntersuchung aufgrund einer extern geäußerten Besorgnis.«
    Es war Calderón, dachte Falcón. Die Geschichte mit Inés vor seiner Wohnung.
    »Sagen Sie mir, was Sie in Ihrem Bericht schreiben werden.«
    »Unser Treffen ist beendet, Inspector Jefe.«

    Dass Falcón am Nachmittag für Pepes Kampf mit Biensolo in seinem lote aus den Pferchen kam, war eher Zufall als Sachverstand. Auf dem Weg von der Jefatura wäre er beinahe mit einem Moped zusammengestoßen und um ein Haar auf eine Kutsche voller Touristen aufgefahren. An der Baustelle auf der Paseo de Cristóbal Colón fehlten jetzt sieben Absperrpolier. Die Auswahl der Stiere war an ihm vorbeigerauscht. Es hatte Andeutungen über eine Hornverletzung bei Stier Nr. 484 gegeben, die auch an sein Ohr gedrungen waren, aber die anderen Vertrauensmänner hatten seine Geistesabwesenheit ausgenutzt, um ihm die Stiere zuzuschieben, die keiner von ihnen wollte. Er rief Pepe im Hotel

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