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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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stießen schrille Schreie aus. Falcón rannte, über entsetzte Zuschauer hinwegstolpernd, an die Bande, wo Pepe eingeklemmt war. Der Stier rammte sein Opfer mit frischer, überwältigender Kraft gegen die Bretter, während Pepe das Horn in seinem Bauch mit beiden Händen gepackt hielt wie ein General, der die Katastrophe gesehen und mit allem abgeschlossen hatte. In seiner Miene stand nur die Trauer des Bedauerns.
    Die Mannschaft strengte sich an, den Stier abzulenken, während Pepe an die Bande gezogen wurde. Seine zerfetzten Beine schlugen zuckend gegen die Bretter, während die Oberschenkelarterie dickes, dunkles Lebensblut schwallweise aus ihm herauspumpte.
    Als man ihn über die Bande hob, quoll es rot aus seinem Bauch, ein Bild, so jammervoll wie eine pietà.
    Falcón rannte, nach Pepes ausgestreckter Hand greifend, neben den sechs Männern her, die den Jungen in Richtung Unfallstation trugen. Doch die Nachricht hatte sich so schnell verbreitet, dass bereits ein Krankenwagen wartete. Die Rettungssanitäter legten Pepe auf eine Trage und schoben ihn in den Wagen.
    Mit ersterbender Stimme rief Pepe nach Falcón.
    Dieser drängte an dem Notarzt vorbei, der eine Kompresse auf die Bauchwunde drückte. Während der Krankenwagen langsam die plaza verließ, schnitt der zweite Sanitäter das Hosenbein auf und griff in die klaffende Oberschenkelverletzung. Pepe wölbte den Rücken und schrie vor Schmerz. Der Notarzt verlangte eine Klemme. Falcón wurde ein Päckchen zugeworfen, er riss es auf und hielt die Klemme dem Notarzt hin, der in der Wunde mit beiden Händen nach der Arterie tastete. Falcón fasste Pepes Hand und bettete seinen Kopf in seinen Schoß. Das Gesicht des Toreros war blutleer, und über seine Wangen kroch die Blässe des Todes. Falcón packte Pepes Schultern und flüsterte ihm alles ins Ohr, was ihm einfiel, um den Jungen zum Durchhalten zu bewegen.
    Mit heulenden Sirenen raste der Krankenwagen über den Paseo Cristóbal Colón. Während Falcón Pepe beschwor durchzuhalten, sah er, dass der Junge etwas sagen wollte. Er hielt sein Ohr dicht an seine Lippen. Sogar der Atem des Jungen war kühl.
    »Es tut mir Leid«, sagte Pepe.

29
    Dienstag, 24. April 2001, Sevilla
    Es hatte die ganze Nacht geregnet, und als der neue Tag dämmerte, war die Luft kühl und sauber. Sonnenlicht glitzerte in den Tropfen, die von den Bäumen fielen, und die ersten Jacaranda waren violett erblüht. Als er sie sah, hielt Falcón an und öffnete das Fenster. In der Stadt war es ihm bisher nur selten gelungen, in der Natur einen Ausdruck der Komplexität des menschlichen Schicksals zu entdecken. Doch die hohen, zerbrechlichen, farnartigen Blätter, die sich vor dem sauberen blauen Himmel um die blassvioletten, in der Windstille traurig herabhängenden Blüten fächerten, sprachen seine Sprache und wussten alles über seinen Schmerz.
    Er schaltete das Autoradio ein. Die Lokalnachrichten drehten sich ausschließlich um Pepe Leal. Die Medien versuchten, eine Story aus der Tatsache zu machen, dass Pepe im entscheidenden Moment vor dem Todesstoß den Kopf gehoben hatte. Ein Stierkampf-Reporter ließ sich letztendlich wenig schlüssig über die unverständliche Ablenkung aus. Irgendjemand in der Diskussionsrunde brachte die Blitzlichter der Fotoapparate ins Spiel, weil zahlreiche Menschen den Augenblick hatten festhalten wollen. Ein anderer meinte, sich an einen größeren Blitz zu erinnern, was der Stierkampf-Reporter höhnisch abtat. Der Mythos hatte begonnen. Falcón schaltete das Radio ab.
    Als er in der Jefatura eintraf, waren die Männer bereits zu ihren Einsätzen aufgebrochen. Nur Ramírez war noch da. Sie gaben sich die Hand, Ramírez umarmte ihn, sprach ihm sein Beileid aus und sagte, dass Comisario Lobo den Inspektor Jefe sofort sprechen wollte. Falcón nahm den Aufzug in den obersten Stock und betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild in der Stahlwand. Er wurde nur noch von Fäden zusammengehalten und würde keinerlei Widerstand leisten.
    Zehn Minuten später war er wieder auf dem Weg nach unten. Die Last der Einsatzleitung war von seinen Schultern genommen. Er war aus familiären Gründen in einen zweiwöchigen Sonderurlaub geschickt worden und sollte sich bei seiner Rückkehr einer umfassenden psychologischen Untersuchung unterziehen. Er hatte nichts gesagt. Er war wehrlos. Er ging in sein Büro und räumte seinen Schreibtisch, wobei er feststellte, dass dieser keine persönlichen Gegenstände, sondern nur ein paar

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