Der Blinde von Sevilla
Briefe enthielt, die er zusammen mit der Dienstpistole einsteckte, obwohl er Letztere eigentlich in der Waffenkammer hätte abgeben müssen.
Um 18 Uhr nahm er an der Beerdigung Pepe Leals teil. Die gesamte Stierkampfgemeinde war gekommen. Paco war untröstlich und vollkommen außer sich. Er schluchzte mit bebenden Schultern laut in seine Hände. Alle weinten. Die Trauergäste, die Friedhofsmitarbeiter, die Blumenhändler, die Schaulustigen und die Grabbesucher. Und ihre Trauer war ehrlich – nur galt sie nicht Pepe Leal. Er war für diese Menschen praktisch ein Unbekannter. Als Falcón mit trockenen Augen leidend inmitten all des Heulens und Schluchzern stand, begriff er, wem diese Trauer galt. Diese Leute betrauerten ihre eigenen Verluste – den Verlust der Jugend, der Zukunft, der Gesundheit und des Talents. Der Tod Pepe Leals bedeutete zumindest zeitweise das Ende aller Möglichkeiten. Falcón schreckte vor der kitschigen Zeremonie zurück, verschloss sich der kollektiven Trauer. Auch hinterher schloss er sich den anderen nicht an, sondern kehrte in sein stilles Haus und seinen Zwangsurlaub zurück.
Ohne den Regenmantel abzulegen, saß er in seinem Arbeitszimmer und kritzelte mit einem Bleistift auf einem Stück Papier herum. Biensolos Horn hatte ein Loch in die Feria gerissen, und Falcón würde die Stadt verlassen, um über Pepes Tod zu bluten. Er kramte eine Karte von Spanien hervor, legte den Bleistift auf Sevilla und drehte ihn drei Mal. Jedes Mal wies seine Spitze direkt nach Süden; zwar gab es südlich von Sevilla nur noch ein kleines Fischerdorf namens Barbate; doch jenseits von Barbate, auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar, lag Tanger.
Das Klingeln des Telefons schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er nahm nicht ab, weitere Beileidsbekundungen waren nicht nötig.
Am nächsten Morgen packte er eine Tasche, in der er auch das noch ungelesene Tagebuch seines Vaters verstaute, suchte seinen Pass und nahm ein Taxi zum Busbahnhof auf der Rückseite des Palacio de Justicia. Fünfeinhalb Stunden später ging er an Bord einer Fähre von Algeciras nach Tanger.
Die Überfahrt dauerte eineinhalb Stunden, die er zum größten Teil damit verbrachte, einem marokkanischen Kollegen dabei zuzusehen, wie er sechs Jungen beaufsichtigte, illegale Einwanderer, die zurückgeschickt wurden. Die Touristen grüßten sie und schenkten ihnen Zigaretten. Der Polizist war streng, aber nicht unfreundlich.
Tanger tauchte aus dem Dunst auf, ohne eine einzige Erinnerung bei Falcón wachzurufen. Nach dem langen verregneten Winter präsentierte sich das Umland in einem satten Grün, einer Farbe, die Falcón nicht mit Marokko assoziierte. Die schmuddeligen, weiß getünchten Häuser innerhalb der alten Stadtmauer – die sich von der Kasba auf der Spitze der Klippe bis zur großen Moschee am unteren Ende erstreckte – wirkten vage vertraut. Jenseits der Mauer hatte sich die ville nouvelle weiter um die Bucht ausgedehnt. Er versuchte, das alte Haus mit dem Atelier seines Vaters zu finden, doch es war entweder zwischen den Apartmentanlagen verborgen oder hatte ihnen weichen müssen.
Der Taxifahrer, der ihn vom Hafen zum Hotel Rembrandt fuhr, versuchte, ihm 150 Dirham zu berechnen, was zu einem hässlichen Wortwechsel und seiner unehrenhaften Entlassung führte, nachdem nur der halbe Betrag den Besitzer gewechselt hatte. An der noch im Marmor der 50er Jahre gehaltenen Rezeption des Hotels gab man ihm den Schlüssel zu Zimmer 422. Er trug seine Tasche selbst nach oben.
Das Hotel hatte im vergangenen halben Jahrhundert sichtlich gelitten. In einer Zimmertür fehlte eine Glasscheibe, Farbe blätterte von den Metallrahmen der Fenster, und das Mobiliar sah aus, als hätte es Zuflucht vor einem gewalttätigen Ehemann gesucht. Doch aus dem Fenster hatte man einen perfekten Blick auf die Bucht von Tanger. Falcón setzte sich aufs Bett und starrte in die Ferne, während seine Gedanken um den Verlust der Heimat kreisten.
Als er sich zum Essen aufmachte, stellte er fest, dass die Ortszeit zwei Stunden hinter der spanischen Zeit zurücklag und um 18 Uhr noch kein Lokal geöffnet hatte. Er schlenderte zur Place de France und weiter am Hotel El Minzah vorbei zum Grand Soco. Von dort ging er über den Markt in die Medina und landete in einer Straße unweit der spanischen Kathedrale. Er versuchte, den Weg zu dem alten Haus seiner Familie zu finden, den er mit seiner Mutter tausend Mal gegangen sein musste, doch er fiel ihm nicht wieder
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