Der Blinde von Sevilla
ein, und im Gewirr der engen Gassen verirrte er sich rasch, bis er sich eher zufällig vor einem Haus wiederfand, dessen Fassade er erkannte.
Die Tür wurde von einem Hausmädchen geöffnet, das nur Arabisch sprach. Sie verschwand, und ein Mann Mitte 50 im weißen Burnus und weißen Lederbabuschen kam an die Tür. Falcón stellte sich vor, und der Mann war verblüfft. Sein eigener Vater hatte das Anwesen von Francisco Falcón gekauft. Er stellte sich als Mohammed Raschid vor, bat Javier herein und führte ihn durchs Haus, das baulich unverändert war, inklusive des Feigenbaums und des eigenartigen hohen Zimmers mit dem Oberlicht.
Raschid lud Falcón zum Essen ein. Über einer riesigen Schüssel Couscous berichtete Javier, dass seine Mutter in diesem Haus gestorben war, und erkundigte sich nach Nachbarn, die damals vielleicht schon hier gelebt hatten. Einer der Boys wurde mit Anweisungen losgeschickt und kam nach wenigen Minuten mit einer Einladung zum Kaffee ins Nachbarhaus zurück.
Zu der Nachbarfamilie gehörte auch ein 75-jähriger Mann, der zum Zeitpunkt des Todes von Javiers Mutter Mitte 30 gewesen sein musste. Er konnte sich gut an den Zwischenfall erinnern, weil sich das meiste vor seiner Haustür abgespielt hatte.
»Ungewöhnlich war, dass zwei Ärzte erschienen«, berichtete der alte Mann, »und es gab einen Streit darüber, wer die Patientin sehen durfte. Offenbar war die Frau, Ihre Mutter, schon tot, deshalb hatte Ihr Vater seinen eigenen Arzt gerufen, damit der sich um die Angelegenheit kümmerte. Ihr Vater war zum Frühstück aus seinem Atelier zurückgekommen und hatte festgestellt, dass seine Frau tot in ihrem Bett lag. In seiner Verzweiflung rief er den einzigen Arzt, den er kannte, einen Deutschen. Der Arzt Ihrer Mutter, ein Spanier, schien damit auch durchaus einverstanden, bis eine Berberin, die Magd Ihrer Mutter, aus dem Haus stürmte und erklärte, ihre Herrin wäre vergiftet worden. Sie hielt ein Glas in der Hand, das sie angeblich neben dem Bett ihrer Herrin gefunden hatte. Niemand glaubte ihr, sodass sie sich zu dem drastischen Schritt hinreißen ließ, etwas von der Flüssigkeit zu trinken. Ihr Vater schlug ihr das Glas aus der Hand, und sie sank mit großem Drama zu Boden. Alle waren bestürzt. Der spanische Arzt trat vor. Doch es war ein Schwindel. Sie war nicht tot. Es war kein Gift in dem Glas, und man tat ihre Beschuldigungen als hysterisch ab.«
Falcón schaffte es nicht, seine zitternden Hände zu kontrollieren, nicht einmal, indem er sie faltete. Schweiß lief über seine Wangen, und selbst dieser oberflächliche Bericht über das Drama ließ schon Übelkeit in ihm aufsteigen. Taumelnd erhob er sich von den Sitzkissen und stieß dabei seine unangerührte Tasse Kaffee um. Mohammed Raschid eilte ihm zu Hilfe.
Gemeinsam gingen sie zu dem Taxistand am Grand Soco, von wo ihn ein ramponierter alter Mercedes zurück ins Hotel Rembrandt brachte. Nachdem er das Haus und die Medina verlassen hatte, beruhigte er sich und bekam er seine Panik unter Kontrolle. Die Erzählung des alten Mannes hatte alles wieder in ihm wach gerufen, das ganze Grauen jenes Morgens. Seine Mutter lag tot im Bett, und vor der Tür herrschte ein unschicklicher Aufruhr. Jetzt erinnerte er sich wieder daran, auch wenn es nach wie vor Lücken gab. Andererseits hatte er nicht gewollt, dass der alte Mann weiterredete – er wusste nicht warum. Er hatte nur so schnell wie möglich dort weggewollt.
Im Hotel ließ er sich in seinem dunklen Zimmer aufs Bett sinken und blickte über das Lichtermeer der Stadt und des Hafens. Er war verzweifelt. Sein ganzer Körper zuckte in einem Anfall von Einsamkeit, und all die unterdrückte Trauer über Pepes Tod kam an die Oberfläche. Er ließ sich zurücksinken, zog die Knie an die Brust und versuchte, sich zusammenzuhalten, weil er Angst hatte, dass er sonst irreparabel zerbrechen könnte. Erst einige Stunden später ließ er los und zog sich aus. Er nahm eine Schlaftablette, schlüpfte unter das Laken und sank in bewusstlosen Schlaf.
Als er aufwachte, war der Vormittag fast vorüber. Es gab kein heißes Wasser. Also duschte er kalt, wobei er still vor sich hin weinte, ohne den Tränenfluss stoppen zu können. Seine Hände hingen schlaff herunter, und er schüttelte elendig den Kopf. Jetzt war auch noch sein Körper außer Kontrolle.
Er machte sich auf den Weg zum Place de France und trank einen Kaffee im Café de Paris. Von dort ging er zum spanischen Konsulat, zeigte seinen
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