Der Blinde von Sevilla
Dienstausweis und fragte, ob in der spanischen Gemeinde noch jemand lebte, der schon in den 50er und 60er Jahren in Tanger gewesen war. Man erklärte ihm, er solle zu einem Restaurant namens Romero’s gehen und dort nach Mercedes fragen.
Das Restaurant lag in einem zwischen zwei Straßen eingeklemmten Garten. Die Tür wurde von einem älteren Mann mit weißem Jackett und einem Fez geöffnet, der hörbare Atemprobleme hatte. Auf dem Weg zum Tisch wurden sie von einem Pekinesen angefallen, dessen durchdringendes Gekläffe Falcón zusammenzucken ließ.
Er bestellte ein Steak und fragte nach Mercedes Romero, woraufhin der alte Mann auf eine ältere, sorgfältig frisierte blonde Frau wies, die an einem Einzeltisch auf der anderen Seite des leeren Restaurants eine Patience legte. Falcón bat den Alten, ihr eine Nachricht zu überbringen, die er auf eine herausgerissene Seite seines Notizbuches schrieb. Der alte Mann entfernte sich stolpernd, überreichte Mercedes den Brief, informierte sie über die Bestellung und bekam Geld in die Hand gedrückt, um ein Steak zu kaufen.
Mercedes bewegte sich langsam durch den Raum. Sie packte den Pekinesen im Genick und schob ihn unter einen leeren Tisch, bevor sie Falcón gegenüber Platz nahm und fragte, ob er der Sohn von Francisco Falcón sei, was dieser bejahte.
»Ich habe ihn nicht persönlich gekannt«, sagte sie. »Pilar auch nicht, aber ich war eine gute Freundin Ihrer Stiefmutter Mercedes, die etwa in meinem Alter war. Sie hat immer in dem Restaurant gegessen, das meine Familie damals im Grand Hôtel Villa de France hatte. Wir standen uns sehr nahe, und ihr Tod hat mich erschüttert.«
»Ich habe sie nie meine Stiefmutter genannt«, sagte Falcón, »sondern immer meine zweite Mutter. Auch wir standen uns sehr nahe.«
»Ja, sie hat mir erzählt, dass Sie für sie wie ein eigener Sohn waren und dass sie sich sehnlichst wünschte, Sie würden in die Fußstapfen Ihres Vaters treten. Sie hat gehofft, dass Sie vielleicht ein noch größerer Künstler werden könnten als er.«
»Ich war damals kaum acht Jahre alt.«
»Dann erinnern Sie sich also nicht mehr daran«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf die Wand hinter ihm.
In einem schlichten schwarzen Rahmen über seinem Kopf hing die Umrisszeichnung einer Frau. Darunter stand Mercedes.
»Nein.«
»Das haben Sie im Sommer 1963 gemalt. Mercedes hat es mir zu Weihnachten geschenkt. Es ist natürlich ein Bild von ihr und nicht von mir. Ich habe sie gefragt, warum sie es mir schenkt, und sie hat etwas sehr Seltsames geantwortet: ›Weil ich weiß, dass es bei dir sicher ist.‹«
Tränen standen in Falcóns Augen. Er hatte mittlerweile jeden Versuch aufgegeben, seine Gefühle zu kontrollieren.
»Sie ist ertrunken«, sagte er. »Ich kann mich noch an den Abend erinnern, als sie gegangen und nicht zurückgekommen ist. Sie haben die Leiche nie gefunden, und ich glaube, die Tatsache, dass ich sie nie wieder gesehen habe, machte es noch schwerer. Meine Mutter habe ich in ihrem Sarg gesehen …«
»Wo ist Ihr Vater jetzt?«, fragte Mercedes.
»Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Vielleicht erinnern Sie sich an eine andere Person aus jener Zeit – an Ramón Salgado, den Agenten Ihres Vaters.«
Falcón nickte und berichtete, dass Salgado kürzlich ermordet worden war und er die Ermittlungen leitete. All die Gründe für seinen Besuch in Tanger sprudelten aus ihm heraus, bis der alte Mann mit dem Fez wieder hereinstolperte und ihm sein Steak und einen Salat servierte.
»Wenn Sie damals schon Kommissar gewesen wären, hätten Sie die Angelegenheit von Mercedes’ Tod vielleicht ein wenig gründlicher unter die Lupe genommen als die hiesige Polizei.«
»Warum sagen Sie das?«
»Ich glaube nicht an Gerüchte – als Betreiberin eines Restaurants höre ich einfach zu viele davon – aber damals gab es eine Menge Gerede. Jedenfalls genug, um jemanden, der ernsthaft an der Aufklärung dieser Tragödie interessiert gewesen wäre, bohrendere Fragen stellen zu lassen, als sie gestellt wurden.«
»Was wollen Sie damit andeuten, Señora Romero?«
»Ich sollte nicht schlecht über die Toten sprechen, aber Mercedes war meine Freundin, und es tat mir unendlich Leid, sie zu verlieren, und ausgerechnet bei einem Bootsunfall. Sie hatte so viel Zeit auf Schiffen verbracht. Ihr Mann Milton besaß eins. Sie war mehrmals über den Atlantik gesegelt. Sie war eine sehr erfahrene und sichere Seglerin. Sie machte keine Fehler. Es hieß, die See
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