Der Blinde von Sevilla
wäre rau gewesen in jener Nacht und in der Straße von Gibraltar wäre ein Sturm aufgekommen, aber ich sage Ihnen, das war nichts, verglichen mit den Stürmen während ihrer Atlantiküberquerung. Es hieß, sie sei über Bord gefallen, aber zumindest ich konnte das nicht glauben. Ich habe nichts auf den ganzen Klatsch über Ihren Vater gegeben, wie achtlos es sei, gleich zwei Frauen zu verlieren. Das fand ich widerwärtig. Aber sowohl Ihr Vater als auch Ramón Salgado hätten wenigstens in einer offiziellen Untersuchung über ihre Handlungen Rechenschaft ablegen müssen.«
Falcón stand auf und ging hinaus, ohne sein Steak angerührt zu haben. Er war nicht bereit, sich so etwas anzuhören. So erging es einem, wenn man berühmt wurde. Die Menschen spekulierten gern auf Kosten von Prominenten. Gut. Aber er wollte dabei nicht mitmachen. Er marschierte schnurstracks zurück ins Hotel Rembrandt, rannte die Treppe zum Zimmer 422 hoch, warf sich aufs Bett, drückte sich ein Kissen auf die Ohren und kniff die Augen zu.
Als er aufwachte, war es Abend, und über der Straße von Gibraltar tobte ein gewaltiger Sturm. Blitze leuchteten hunderte von Kilometern weit und erhellten riesige Wolken, die sich am Abendhimmel auftürmten. Draußen goss es in Strömen. Er fand ein Restaurant, wo er ein Lamm-Tagine aß und dazu eine Flasche Cabernet Président trank. Dann stolperte er zurück ins Hotel, sank aufs Bett und wachte irgendwann schwitzend und vollständig bekleidet wieder auf. Er zog sich aus und kroch wieder unter das Laken, während der Regen weiter gegen die Fenster prasselte.
Der Freitagmorgen war trübe und regennass. Falcón hatte eine weitere Erkundigung vor sich, die wahrscheinlich noch fruchtloser ausfallen würde als die bisherigen. Er checkte aus seinem Hotelzimmer aus und nahm ein grand taxi nach Tétouan. Der Wagen hatte unterwegs eine Panne, sodass er erst am späten Nachmittag eintraf. Er unternahm eine kurze Tour durch die spanische Gemeinde der Stadt und erkundigte sich nach jemandem, der möglicherweise die Familie González gekannt hatte, die in den 30er Jahren in der Hotellerie tätig gewesen war.
Um sieben Uhr hatte er seinen Führer durch die Medina verloren und wanderte, einem mit frischer Pfefferminze beladenen Karren folgend, ziellos durch die Gassen, bis er in einer engen Straße auf einen Anblick stieß, der ihn erstarren ließ: Ein Mann mit einem Karren voller Stahlfässer goss Milch in die Kalebassen einheimischer Frauen. Der Strom der weißen Flüssigkeit erfüllte ihn mit Ekel, und das flache ruhige Weiß der gefüllten Kalebassen ließ ihn auf dem Absatz kehrtmachen und die engen Gassen der Medina hektisch fliehen.
Er gab den Versuch auf, jemanden zu finden, der ihm »den Zwischenfall« aus den Tagebüchern seines Vaters erklären konnte. Stattdessen suchte er ein billiges Hotel mit einer Bar, wo er inmitten einer Schar von Marokkanern unter einer Dunstglocke aus Zigarettenqualm Bier trank und albondigas aß. Er beteiligte sich an ihrem Smalltalk, um nicht erneut in depressiven Gedanken zu versinken.
In jener Nacht erwachte er aus einem schrecklichen Traum und musste in seinem Zimmer auf und ab laufen, um ihn abzuschütteln. Der Traum hatte von nichts Speziellem gehandelt, sondern vielmehr von einem schrecklichen Weiß – eine formlose, alles verschlingende Leere, die keine Erinnerung, keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft barg. Es war das Ende der Zeit – und es schien nach ihm zu greifen.
Die Tagebücher
des Francisco Falcón
12. Januar 1958, Tanger
Ich komme früher nach Hause, um an seinem zweiten Geburtstag etwas mit Javier zu unternehmen, doch P. und er sind nicht zu Hause. Die anderen Kinder sind in der Schule. Nur eine Magd ist da, und sie spricht einen undurchdringlichen Berber-Dialekt, den nur P. versteht. Ich koche vor Wut und gehe zurück ins Atelier, wo ich eine Leinwand mit grausamen, vernichtenden roten Pinselstrichen fülle, als würde ich mich durch die Reihen eines feindlichen Heeres metzeln. Das Ergebnis ist ein Werk von fantastischer Energie und abstoßender Brutalität, wie ich sie sonst nur auf dem Schlachtfeld ausgelebt habe. Ich verbrenne es, und der Anblick der Sichelhiebe aus Farbe, die von den Flammen verzehrt werden, bereitet mir eine beinahe sexuelle Lust.
15. Juli 1958, Tanger
R. ist in mein Atelier gekommen (er war noch nie hier). G. ist wieder schwanger, und er ist in einem furchtbaren Zustand. Er wartet auf meinen Tadel und nennt
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