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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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behandelt. Ihr Leben ist zerstört. Kein Geld der Welt kann den Schaden beheben, der ihr und dem Namen meiner Familie dadurch zugefügt wurde. Sie sollten wissen, dass ich mich aus dem Geschäft zurückgezogen haben, in das meine Partner und ich investiert hatten.
    Sie sollten Ihrem Freund sagen, dass die Familie von Abdullah Diouri gerächt werden wird und dass der von uns verlangte Preis der gleiche ist, den wir bezahlen mussten. Ich habe eine Tochter verloren, und meine Familie ist entehrt worden. Ich werde Ihren Freund aufspüren, wenn nötig am Ende der Welt, und die Ehre meiner Familie von ihm zurückverlangen.

    Der Brief war von einer Grobheit und einem Mangel an Höflichkeit, die ihn authentisch klingen ließen. Die Punkte über und unter den Zeilen waren mit roter Tinte hinzugefügt, sodass es aussah wie verspritztes Blut. Ich schickte Original und Übersetzung an R. der G. nach wie vor nicht aus dem Krankenhaus in Algeciras herausholen konnte, in das sie gebracht werden musste, nachdem sie auf der Überfahrt bewusstlos geworden war.

    17. März 1959
    Im letzten halben Jahr war ich so beschäftigt mit R.s Problemen, dass ich keine Zeit hatte, über das Ende einer Ära nachzudenken. Jetzt hat es sich angeschlichen, und ich treibe in seinem aufgewühlten Kielwasser. R.s Weggang hat mich härter getroffen, als ich erwartet hatte. Ich sitze alleine an seinem Tisch im Café de Paris, und jedes Gespräch ist ein fortwährendes Lamento. Büros haben geschlossen. Im Hafen dürfen kein Alkohol und kein Tabak mehr verladen werden. Die Hotels sind leer. Wir müssen mit Dirham bezahlen. Die teuren Läden am Boulevard Pasteur sind geschlossen und von Marokkanern übernommen worden, die Nippes für Touristen verkaufen. Ohne B.H. in ihrem Sidi-Hosni-Palast würden wir komplett von der Weltbühne rutschen. Meine Arbeit ist stecken geblieben. Ich habe das Gefühl, dass ich nichts anderes tue, als de Kooning zu kopieren, auch wenn M. mir schreibt, wie sehr alle Gäste in M.G.s Wohnung meine »Menschenlandschaft« bewundert haben. Doch selbst diese Worte ändern nichts an meinem Gefühl von Niedergang. Ich komme mir vor wie ein alter Römer nach dem Bacchanal, schal und lustlos, mit Anwandlungen von Ennui und Sorge über den Untergang des Imperiums.
    R. lässt mir die Nachricht zukommen, dass er in der Sierra de Ronda lebt. Die klare, trockene Luft bekommt G. gut.

    18. Juni 1959, Tanger
    Die erste Hitze des Sommers ist brutal. Mein Gehirn ist ein brodelndes Nichts. Ich liege auf den Teppichen in meinem Atelier, trinke Tee und rauche. Ich schlafe den ganzen Nachmittag und wache um acht Uhr abends auf, wenn die Temperaturen beinahe erträglich sind. Plötzlich fällt mir ein, dass P. heute Geburtstag hat und ich ihr kein Geschenk gekauft habe. Ich krame durch meine Schubladen und finde einen Achatwürfel auf einem billigen Silberring, den M. irgendwann vergessen haben muss. Aus farbigem Papier bastle ich Blütenblätter darum, drücke das Ganze in eine Schachtel und den Deckel so zu, dass es beim Öffnen herausspringt. Ich binde rote Stoffstreifen darum und gehe nach Hause.
    Um Mitternacht haben wir gegessen. Die Kinder wollen gerade ins Bett gehen, als mir das Geschenk wieder einfällt. Ich lasse die kleine Schachtel von Javier überreichen. P. öffnet sie zeremoniell. Die Blume springt heraus, und der Deckel der Schachtel schlägt Javier gegen die Nase. Alle sind entzückt, einschließlich P. doch dann tritt ein Ausdruck kompletter Verwunderung auf ihr Gesicht. Ich bekomme Panik, dass es einer von ihren alten Ringen ist, den ich ihr jetzt noch einmal geschenkt habe. Aber ich bin mir sicher, dass das nicht der Fall ist. Das wäre mir aufgefallen. Der Moment verstreicht. Sie streift den Ring über. Ich küsse sie und bemerke, dass es bis auf ihren Ehering der einzige Schmuck ist, den sie an den Händen trägt. Das überrascht mich, weil es immer einen Ring gab, den sie nie abgenommen hat – einen silbernen Ring mit einem kleinen Saphir, den ihre Eltern ihr geschenkt haben, als sie eine Frau wurde. Beinahe frage ich sie, ob sie ihn verloren hat, doch ihr Gesichtsausdruck beim Anblick des Achatwürfels hat mich unsicher gemacht.

30
    Samstag, 28. April 2001, Tétouan, Marokko

    Falcón stand früh auf und nahm schon vor Anbruch der Dämmerung ein grand taxi nach Ceuta. Von dort setzte er mit dem Luftkissenboot nach Algeciras über. Der letzte Eintrag des Tagebuchs war ihm ins Gedächtnis gebrannt. Der Mörder hatte den Ring

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