Der Blinde von Sevilla
mich, als ich nichts sage, einen wahren Freund. Der Arzt hat heftig mit ihm geschimpft. Er versichert mir wieder und wieder, dass es ein Unfall war, bis ich aufhöre, ihm zu glauben. »Diesmal werde ich sie verlieren«, sagt er, und ich erkenne seine leidenschaftliche Liebe zu ihr, eine Liebe, die ich einst für P. empfunden habe und jetzt für Javier empfinde. Ich bin gerührt und versuche, ihn zu beruhigen. Sie muss während der gesamten Schwangerschaft ruhig liegen, sagt er, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass es auch noch um etwas anderes geht. Die Tatsache, dass sie transportunfähig ist, scheint ihm Angst zu machen, und als ich ihn mit Fragen bedränge, sagt er plötzlich: »Wir sollten alle hier weg und zurück nach Spanien gehen.« Ich glaube, dass er ein geschäftliches Problem hat, doch er lässt sich nicht auf das Thema ein.
25. September 1958, Tanger
Ich war naiv. Ich hätte wissen müssen, dass R. auch wenn er in Geschäftsangelegenheiten gleichermaßen skrupellos und taktvoll vorgehen kann, in Herzensangelegenheiten ein kleiner Junge ist, unfähig zu einem Mindestmaß an Objektivität und jeder Laune seiner noch jugendlichen Leidenschaften unterworfen. Jetzt weiß ich, warum er vorher nicht darüber sprechen konnte. Er hat sich geschämt. Es kommt mir erstaunlich vor, dass ein erwachsener Mann, der in Tanger lebt, wo die Orgien des alten Roms fade erscheinen wie eine englische Teegesellschaft, noch fähig ist, sich zu schämen. R. ist eine Insel der Tugend in einem Meer der Schamlosigkeit. Er hat sich nie mit den einheimischen jungen Männern eingelassen, die Vorstellung stößt ihn ab, und er findet es »unmoralisch«. Seit er G. getroffen hat, ist er meines Wissens nach nie vom Pfad der Tugend abgekommen, nicht einmal mit einer Prostituierten in der Zeit vor ihrer Hochzeit. Allein der Gedanke an die wilde Ekstase ihrer Hochzeitsnacht macht mich schwach.
R.s Enthüllungen sind ziemlich schockierend und müssen ihm unter sichtlichen Mühen entlockt werden. Wir sitzen auf der Veranda des Ateliers, und wenn er bei seiner Beichte (ich fange an, mich zu fühlen wie ein fetter, korrupter Prälat) nicht den Kopf in den Händen vergraben hält, läuft er auf und ab und sieht sich immer wieder um, ob auch niemand in der Nähe ist, der ihn hören kann. Denn im Alter von 35 Jahren hat R. sich auf geradezu dramatisch unverantwortliche Art und Weise versündigt. Ich merke, dass ich versuche, es zu verharmlosen, doch was R. getan hat, ist ernst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ohne die Arglist der Marokkaner geschehen ist, mit denen er Geschäfte gemacht hat. Wir Europäer und besonders die Amerikaner sind von Stärke beeindruckt, wir möchten sie gern demonstriert bekommen, vor allem im Geschäftsleben. Der Marokkaner hingegen und vielleicht auch der Afrikaner im Allgemeinen interessiert sich nicht für die offen liegenden Stärken, sondern eher für verborgene Schwächen. Es ist traurig, dass Tugend als Schwäche betrachtet wird … wenn es denn Tugend ist. R.s Leidenschaft für G. als junges Mädchen hat mich stets irritiert. Und jetzt ist er dieser Leidenschaft erneut verfallen. Er hat zufällig die Tochter eines Geschäftspartners in Fès gesehen. Das Mädchen war unverschleiert, sodass es möglicherweise nicht älter als zwölf war. R.s Interesse wurde bemerkt, das Mädchen verfügbar gemacht, R. hat gesündigt, und nun geht es um das, was in der marokkanischen Gesellschaft vielleicht das AUerwichtigste ist – es geht um die Ehre. Man erwartet von R. dass er das Mädchen zur Frau nimmt. Das ist unmöglich. Und hier haben wir die Kollision zweier Kulturen und den Grund für R.s Qualen. Es gibt eine Lösung: Er muss das Land verlassen. Er wird seine komplette Investition in das marokkanische Projekt verlieren, die sich auf insgesamt 25000 Dollar beläuft. Doch G. ist transportunfähig, und er kann seine Familie nicht entwurzeln, ohne ein paar unangenehme Geständnisse machen zu müssen. Er fürchtet, dass seine Familie, nachdem die Internationale Zone jetzt nicht mehr existiert, in Gefahr sein könnte. Wieso? Seine letzte Enthüllung bewahrt er sich bis ganz zum Schluss auf. Das arabische Mädchen ist schwanger. Er glaubt, es könnte einen Racheanschlag auf seine Familie geben, wenn er Tanger verlässt.
7. Oktober 1958, Tanger
Als Sicherheitsmaßnahme hat R. gegenüber seinem eigenen ein Haus gemietet, in dem vier meiner Legionäre Stellung bezogen haben. Der Druck auf ihn wächst, und
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