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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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und »D«. Doch dann fielen ihm Tintenspuren am Rand der Ausdrucke ins Auge, und er begriff, dass sein Vater die Leinwände auf der Vorderseite nummeriert hatte, auf dem Rand, der über den Rahmen gespannt wurde. Er ging die Nummern durch und rekonstruierte die richtige Reihenfolge. Er erkannte das »I« und »D« izquierda und derecha , links und rechts, bedeuteten. Er markierte die Ausdrucke entsprechend, schnitt die A3-Bögen an den Rändern der einzelnen Bilder ab und setzte sie wie in dem Diagramm beschrieben zusammen. Das fertige Werk befestigte er mit Klebeband an der Arbeitswand seines Vaters und wandte sich ab. Er ging zum Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und wollte sich umdrehen, als er den Schweißausbruch spürte – die vertraute Feuchtigkeit auf seinen Wangen.
    Es war seine letzte Gelegenheit zu gehen.
    Die Augen fest zugekniffen, drehte er sich um.
    Dann öffnete er sie und sah, was sein Vater getan hatte.

31
    Sonntag, 29. April 2001, El Zurdos Werkstatt,
    Calle Parras, Sevilla

    Falcón pinnte die Ausdrucke an die Wand, während El Zurdo sich einen Joint drehte und anzündete. Javier tippte ihm auf die Schulter, als er den ersten Zug inhalierte. El Zurdo drehte sich um.
    »Joder!« , sagte er. »Wer ist das?«
    »Das?«, fauchte Falcón. » Sie ist meine Mutter.«
    »Joder« , sagte El Zurdo erneut und trat fasziniert näher. »Das ist ein ziemliches Kunstwerk.«
    »Es ist kein Kunstwerk«, sagte Falcón. »Es ist ein Stück Scheiße.«
    »Hey, ich bin nicht so persönlich betroffen wie Sie«, sagte El Zurdo. »Ich betrachte es lediglich als …«
    »Kunst?«, fragte Javier ungläubig.
    »Rein technisch, meine ich. Es ist schon außergewöhnlich, fünf miteinander verbundene Werke zu schaffen, die bedeutungslos und scheinbar unzusammenhängend sind … ich habe nicht mal die Verbindungsstücke der Puzzleteile erkannt, aber wenn man sie zusammenfügt …«
    »… werden sie zu einem durch und durch abscheulichen Ausdruck des Hasses eines Mannes auf seine Frau und die Mutter seiner Kinder, wie es nur der Geist eines Ungeheuers hätte hervorbringen können«, sagte Javier.
    Die beiden Männer standen schweigend vor der Wand, während das Grauen des Werkes den Raum erfüllte. Das Bild hatte eine Frau offenbart, die sich unter den Zuwendungen zweier gieriger Satyrn wand, deren einer von hinten in sie eindrang, während der andere mit drastischer Anschaulichkeit ihren Mund ausfüllte. Doch es war keine Vergewaltigung. In dem einen sichtbaren Auge der Frau lag ein Ausdruck von Einverständnis. Es war widerlich. Javier ging an El Zurdo vorbei, riss die Ausdrucke von der Wand, zerknüllte sie und schleuderte sie in eine leere Ecke der Werkstatt.
    »Was kann ihn nur dazu bewogen haben, so etwas malen zu wollen …?«
    »Nehmen Sie einen Zug«, sagte El Zurdo und hielt ihm den Joint hin.
    »Nein, danke.«
    »Es wird Sie beruhigen.«
    »Ich will mich nicht beruhigen.«
    »Hören Sie … vielleicht hat er herausgefunden, dass sie eine Affäre hatte.«
    »Oh«, sagte Javier, »während er vollkommen unschuldig war? Während er es bei jeder Gelegenheit mit jungen Männern getrieben hat …«
    »Damals war es für Frauen etwas anderes«, sagte El Zurdo.
    »Während er sogar in seiner Hochzeitsnacht noch Unzucht mit Jungen getrieben hat. Während er noch vor dem Tod seiner ersten Frau eine Affäre mit einer Geliebten begann, die seine zweite Frau werden sollte.«
    »Er hat Frauen gehasst«, erwiderte El Zurdo nüchtern.
    »Was haben Sie gesagt?«, fragte Javier. »Ich habe das nicht richtig … was …?«
    »Ich sagte, er hat Frauen gehasst.«
    »Was soll das heißen, El Zurdo?«
    »Genau das, was ich gesagt habe … und ich meine jetzt nicht das vollkommen normale Maß an Frauenhass, das in jenen Zeiten geherrscht hat. Es ging weiter … sehr viel weiter.«
    »Er war zwei Mal verheiratet, er hat vier der erhabensten Frauenakte gemalt, die die Welt je gesehen hat, und Sie glauben, er hat Frauen gehasst ?«
    »Ich glaube gar nichts«, sagte El Zurdo. »Er hat es mir selbst erzählt.«
    »Das hat er Ihnen erzählt? Seit wann waren Sie denn so vertraut miteinander, dass mein Vater Ihnen etwas Derartiges offenbaren würde?«
    »Seit wir ein Liebespaar waren.«
    Es folgte ein langes Schweigen, in dessen Verlauf Falcón sich in einen ramponierten Sessel fallen ließ. All seine Kraft war verpufft. Er war sich der Tatsache bewusst, dass er mit vor Schock schlaffen Gesichtszügen und Armen vor sich hin

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