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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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herausgefunden?«
    »Das Ganze war nicht besonders schlüssig. Ich habe herausgefunden, was sich auf der Straße abgespielt hat, und das war eine der Erinnerungen, die mich irritiert hatte. Doch es war nur die Berbermagd meiner Mutter, die einen hysterischen Anfall hatte. Das ist bei arabischen Frauen nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich haben sie …«
    »Sie glauben doch selbst nicht, was Sie sagen, oder, Javier? Sie haben der Sache durchaus Bedeutung zugemessen.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte er.
    Alicia atmete langsam aus. Sie waren wieder auf eine Mauer gestoßen.
    »Was haben Sie in Tanger sonst noch erfahren?«
    »Ich habe unsinnigen Klatsch über die Todesumstände meiner zweiten Mutter gehört.«
    »Ihre zweite Mutter?«
    »Ich werde die Glaubwürdigkeit des Geredes nicht aufwerten, indem ich es hier wiederhole.«
    »Und was sonst?«, fragte Alicia, vor seinem Widerstand zurückweichend.
    »Ich habe eine unerklärliche Angst vor Milch«, sagte er und erzählte ihr von dem Zwischenfall in der Medina von Tétouan und dem nachfolgenden Traum.
    »Was bedeutet Milch für Sie?«
    »Nichts.«
    »Und was bedeutet der Traum?«
    »Es bedeutet nichts anderes, als dass ich Milchprodukte schon immer gehasst habe … genau wie mein Vater.«
    »Und was produzieren Mütter, um ihre Babys zu füttern?«
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte er abrupt. »Die Stunde ist um. Sie hätten strenger mit mir sein sollen.«
    Sie gingen zur Tür, und er trat ins Treppenhaus, ohne sie anzusehen. Er machte auch das Licht nicht an, sondern tastete sich im Dunkeln die Stufen hinunter.
    »Sie kommen doch zu mir zurück, oder, Javier?«, rief Alicia ihm nach.
    Er antwortete nicht.

    Zu Hause saß er im Arbeitszimmer und betrachtete die schwarzweißen Ausdrucke, während Gefühle von Schuld und Scheitern ihn bedrängten. Dann hängte er die Ausdrucke an die Wand und trat ein paar Schritte zurück. Sie ergaben keinen Sinn. Er hängte sie anders auf, weil er dachte, dass es vielleicht eine Frage der Reihenfolge war, erkannte jedoch sofort, dass es zu viele mögliche Anordnungen gab.
    Im Patio ging ein Wind und klapperte an der Tür. Er ging hinaus, setzte sich an den Brunnenrand und tippte mit den Füßen auf die abgetretenen Fliesen, bis ihn deren rechteckige Form an das Diagramm erinnerte, das aus der Rolle mit den Leinwänden gefallen war.
    Er riss die Ausdrucke von der Wand, rannte ins Atelier und fand das Diagramm zwischen den Kartons auf dem Boden des kleinen Lagerraums. Fünf ineinander greifende, fortlaufend nummerierte Rechtecke. Besessen von der Idee, dass dies der Schlüssel zu dem Rätsel sein würde, stürzte er wieder nach unten. Aber zu welchem Rätsel? Er verlangsamte seine Schritte und blieb im Innenhof stehen.
    Die Gewissheiten und ihr Zusammenbruch traten ihm vor Augen wie eine Reihe biblischer Filmclips, in denen Götzenbilder umgestürzt und Grundpfeiler eingerissen wurden, Torbögen in sich zusammensackten und Säulen in riesige Fragmente zerbrachen. Sein Bild von seinem Vater hatte sich bereits verändert – er hatte den gewalttätigen Legionär, den vom Krieg verstörten Veteranen von Leningrad, den mörderischen Schmuggler und zuletzt den gequälten Künstler kennen gelernt. Und doch war alles irgendwie erklärbar. Es war nicht seine Natur, er war vielmehr ein Produkt des brutalsten Jahrhunderts der Geschichte. Der blutige Bürgerkrieg, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die unverarbeitete Gewalttätigkeit, die irgendwann in den Hedonismus im Nachkriegs-Tanger übergegangen war. Stets konnte man auf äußere Einflüsse hinweisen, die eine verheerende Wirkung auf die zerbrechliche Psyche seines Vaters gehabt hatten. Aber vielleicht war das hier anders. Vielleicht enthüllte es etwas zutiefst Privates, eine furchtbare Schwäche, die das verborgene Ungeheuer zum Vorschein kommen lassen würde. Wollte er das wirklich?
    Wie hatte Consuelo Inés und ihn bei ihrer ersten Begegnung genannt? Eine Verbindung der Wahrheitssucher. Der ganze Grund für diese schreckliche Reise war sein unwiderstehlicher Entdeckungsdrang. Wollte er jetzt davor zurückschrecken und am einsamen Ende der Calle Negación landen? Und was dann? Dann würde er sein Leben weiterleben, als ob nichts von all dem passiert wäre, und Javier Falcón würde spurlos versinken.
    Er trug die Leinwände ins Atelier und teilte sie den jeweiligen Ausdrucken zu, fand jedoch kein Nummerierungssystem. Auf der Rückseite der Leinwände standen nur die Buchstaben »I«

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