Der Blinde von Sevilla
der Struktur und Gesamtheit des Werkes ablenken zu lassen, wenn ich bloß versuche, es genau zu kopieren. Manchmal fand er meine Kopien sogar besser als das Original. Es gibt zwei amerikanische Sammler, an deren Wänden eine von ihm signierte Kopie von mir hängt. Das ist Kunst, erklärte er mir. Nichts ist original.«
Falcón nippte an seinem Wein, nahm sein Besteck und fing an zu essen.
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte er.
»Vor etwa fünf Jahren. Wir haben hier zusammen zu Mittag gegessen. Er war glücklich. Er hatte sein Einsamkeitsproblem gelöst.«
»Er war einsam?«
»Den ganzen Tag. Jeden Tag. Der berühmte Mann in seinem großen dunklen Haus.«
»Er hatte doch Freunde, oder nicht?«
»Mir hat er gesagt, er hätte keine. Den einzigen Freund, den er hatte, hat er 1975 verloren.«
»Und wer war das?«
»Raúl Jiménez … ich habe gehört, dass er vor kurzem ermordet worden ist«, sagte El Zurdo. »Darüber wäre Ihr Vater nicht traurig gewesen.«
»Woran ist ihre Freundschaft denn zerbrochen?«
»Das ist interessant. Ich habe nicht verstanden, warum es ihn derartig aufgebracht hat. Er hat mir erzählt, dass er Raúl eines Tages in Sevilla auf der Straße getroffen hätte. Beide wohnten seit Jahren in der Stadt auf unterschiedlichen Ufern des Flusses, offenbar ohne voneinander zu wissen. Sie gingen zusammen Mittag essen. Ihr Vater erkundigte sich nach Raúls Familie, und er sagte, es ginge allen gut. Sie sprachen über den Ruhm Ihres Vaters und Raúls wirtschaftlichen Erfolg – all den Mist, über den sich zwei Freunde eben so unterhalten –, aber Ihr Vater hat ihn nicht gefragt, warum er sich nicht gemeldet hatte. Bei seiner Berühmtheit musste Raúl gewusst haben, dass er seit gut zehn Jahren in Sevilla lebte. Nach dem Essen erzählte Raúl ihm aus heiterem Himmel etwas, das nichts mit dem zu tun hatte, worüber sie geredet hatten. Sie haben in den Tagebüchern vielleicht gelesen, dass Ihr Vater nach dem Abschied aus der Legion hierher gekommen ist, um zu malen. Er hatte das Geld von der Armee gespart. Seinen Kampfsold aus Russland.«
»Und irgendjemand hat das Geld gestohlen«, sagte Falcón, »wodurch mein Vater überhaupt in Tanger gelandet ist.«
»Genau«, sagte El Zurdo. »Raúl hat ihm nach diesem Essen erzählt, dass er es war, der das Geld gestohlen hat. Und danach haben sie nie wieder ein Wort miteinander gesprochen.«
»Warum nicht?«
»Ihr Vater fand, dass Raúl Jiménez nicht das Recht hatte, den Lebenskurs eines anderen Menschen zu verändern. Ich sagte, aber wenn es doch zum Vorteil war, was soll’s? Schließlich hat er dort ein Vermögen gemacht und ist berühmt geworden … Aber er wollte mir nicht zuhören. Er stürmte durch das Haus und brüllte: ›Er hat mich ruiniert, der cabrón hat mich ruiniert.‹ Aber in all dem, was er erreicht hatte, konnte ich beim besten Willen keinen Ruin erkennen, Javier.
Außerdem machte ihn die bloße Tatsache wütend, dass Raúl Jiménez ihm erzählt hatte, was er getan hatte. Das konnte er nicht verstehen, bis er herausfand, was wirklich mit der Familie des Mannes geschehen war. Seine Frau hatte Selbstmord begangen. Der kleine Junge war gestorben. Die Tochter war in einer psychiatrischen Anstalt, und der Sohn redete nicht mehr mit ihm. Es war eine einzige Katastrophe, und da begriff er, dass ein alter, enger Freund das Letzte war, was Raúl Jiménez in dieser Phase seines Lebens wollte. Er wollte ein neues Leben … eins ohne Francisco Falcón.«
»Sie sagten vorhin, mein Vater hätte sein Einsamkeitsproblem gelöst.«
»Er hat mir erklärt, dass er keine Freunde wollte, sondern eigentlich bloß Gesellschaft.«
»Was war mit Manuela?«, fragte Javier. »Hat Manuela ihn nicht manchmal besucht?«
»Doch schon, aber er hat Manuela nie gemocht. Sie kam ein paar Stunden in der Woche, aber sie war nicht das, wonach er suchte. Er wollte bloß jemanden, der die leeren Räume im Haus füllte. Er mochte die Vorstellung von jungen unkomplizierten, zukunftsorientierten Menschen, die immerzu fröhlich waren. Deshalb hat er mit der Universität Madrid und der hiesigen Uni eine Vereinbarung getroffen, dass sie ihm hin und wieder für jeweils einen Monat einen Studenten schicken konnten. Für ihn hat es funktioniert. Ich hätte es gehasst.«
»Davon hat er mir gar nichts erzählt.«
»Vielleicht wollte er es Ihnen gegenüber nicht zugeben«, sagte El Zurdo. »Vielleicht wollte er den Kurs Ihres Lebens nicht
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