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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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einmal zu durchleben, bis ich auf dieselbe geschlossene Tür stoße. Es ist anstrengend und lässt die realen Alltagserfahrungen wie historische Begebenheiten erscheinen. Habe ich Ihnen erzählt, dass ich nach Tanger gefahren bin?«
    »Noch nicht«, sagte sie. »Warum sind Sie gerade dorthin gefahren?«
    »Ich habe Sonderurlaub aus familiären Gründen.«
    Er erzählte ihr vom Tod Pepe Leals.
    »Was haben Sie gehofft, nach 40 Jahren in Tanger zu finden?«
    »Antworten. Dort hat das Leben eine andere Geschwindigkeit. Ich dachte, ich könnte jemanden finden, der sich an Dinge erinnert, die ich vergessen habe, und meinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft.«
    »Aber warum Tanger? Sie sind wegen Inés vom Dienst suspendiert. Warum kümmern Sie sich nicht darum? Was war der Antrieb?«
    »Es hat mich dorthin gezogen. Ich habe keine bewussten Entscheidungen getroffen. Ich bin dorthin gefahren, wohin das Schicksal mich geführt hat. Ich habe mich der Führung anderer überlassen … und bin vor unserem alten Haus in der Medina gelandet.«
    »Und keine bewussten Entscheidungen?«
    »Keine.«
    »Wann hat sich die Veränderung in Ihrem Denken noch gleich zum ersten Mal bemerkbar gemacht?«
    »Ich habe etwas gespürt, als ich das Gesicht des ersten Opfers gesehen habe.«
    »Und was war das erste Erlebnis außerhalb Ihrer Ermittlung, das bei Ihnen den Gedanken ausgelöst hat, diese Veränderung wäre nicht nur der andauernde Schock nach einem brutalen Anblick?«
    Langes Schweigen. »Ich bin in die Innenstadt gegangen, um das Adressbuch des Opfers abzuholen, und in eine Prozession der Semana Santa geraten. Aus irgendeinem Grund wäre ich beim Anblick der Jungfrau … beinahe ohnmächtig geworden. Es war eine sehr ergreifende Erfahrung.«
    »Sind Sie religiös?«
    »Überhaupt nicht.«
    »Und danach?«
    »Ich habe auf einem der Fotos des Opfers meinen Vater entdeckt und erfahren, dass er schon vor dem Tod meiner Mutter eine Affäre hatte.«
    »Und in Ihrem Leben?«
    »Die Entdeckung der Tagebücher zusammen mit dem Brief … hat irgendwas ausgelöst. Ich meine, es hat … eine Finsternis aufgewühlt. Ich habe mich an dem Abend sehr seltsam benommen. Ich dachte, ich hätte vielleicht etwas Böses in mir. Diesen Aspekt meines Wesens hatte ich vorher nie gesehen. Ich war immer gnadenlos gut. Entschlossen, gut zu sein.«
    »Aus Angst?«
    »Ja.«
    »Wovor?«
    »Da war noch etwas an diesem Abend«, sagte Falcón. »Ich habe versucht, die Prostituierte zu finden, die in der Nacht seines Todes mit dem Opfer zusammen war. Sie wurde vermisst. Der Mörder hat zum ersten Mal Kontakt mit mir aufgenommen. Er hat mich gefragt: ›Sind wir uns nahe?‹ Und dann hat er selbst geantwortet: ›Näher, als du denkst.‹ Als ob er etwas über mich wüsste – was, wie ich jetzt weiß, auch stimmt.«
    »Was dachten Sie denn, was er über Sie wüsste?«
    »Ich dachte, er meint, dass er mir körperlich nahe ist, dass er mich verfolgt. Aber später kam mir dann der Gedanke, dass er vielleicht gemeint hat, dass wir uns nicht unähnlich sind«, sagte Falcón stotternd. »Und ich wusste, dass er das Mädchen getötet hatte, und habe mir deswegen Vorwürfe gemacht.«
    »Vorwürfe?«
    »Wir sind davon ausgegangen, dass es eine Verbindung zwischen dem Mörder und dem Mädchen gab, sind dem aber nicht nachgegangen. Wir hätten uns mehr anstrengen müssen. Wir haben versagt …«
    »Sie haben nicht versagt«, sagte Alicia. »Sie wollte es Ihnen nicht sagen. Sie hatte ihre eigenen Gründe, ihn zu schützen.«
    »Ich fühle mich trotzdem schuldig.«
    »Aber weswegen?«
    Langes Schweigen.
    »An jenem Abend bin ich in eine weitere Prozession geraten, eine der stummen, anklagenden Sorte. Und … sie war so schön … die Jungfrau. Lächerlich, dass eine Puppe in Kleidern einen so … ergreifen kann«, sagte er. »Ich konnte es nicht ertragen. Ich konnte nichts von dem ertragen, was sie verkörpert, und musste an ihr vorbei. Ich musste von ihr weg.«
    »Und das war für Sie verbunden mit Ihrem Schuldgefühl wegen des Mädchens?«
    »Ja. Mit meinem Versagen.«
    »Sie wissen, wer die Jungfrau ist?«
    »Ja.«
    »Sie wissen, was sie verkörpert?«
    Er nickte.
    »Sagen Sie es«, fordert Alicia ihn auf.
    »Sie ist die Mutter Gottes, die höchste Mutter.«
    »Die höchste Mutter«, wiederholte sie. »Sagen Sie mir, warum Sie nach Tanger gefahren sind.«
    »Ich wollte wissen, wie … ich wollte wissen, was passiert ist, als sie gestorben ist.«
    »Haben Sie es

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