Der Blinde von Sevilla
starrte.
»Wann?«, fragte er leise.
»Von 1972 an elf oder zwölf Jahre lang, bis er Angst vor AIDS bekam.«
»Und das eine Mal, als ich mit ihm hier war …?«
El Zurdo nickte. Weitere schmerzhafte Augenblicke verstrichen.
»Und Sie halten das nicht für die bitterste Ironie aller Zeiten?«, fragte Falcón.
»Dass ausgerechnet er diese Akte gemalt hat?«, fragte El Zurdo. »Das war bloß seine Arbeit … es musste ja nicht auch noch sein Leben sein.«
»Wo kam er her … dieser Hass?«, fragte Falcón. »Ich verstehe nicht, woher er hätte kommen können.«
»Von seiner Mutter.«
Javiers Gehirn tickte wie ein Metronom, das die Sekunden abzählte, bevor der Wahnsinn zuschlug.
»In seinen Tagebüchern spricht er immer von ›dem Zwischenfall‹«, sagte Falcón. »Irgendetwas ist passiert, als er noch ein Junge war, was ihn von zu Hause fort in die Legion getrieben hat. Ich denke, dass er mit manchen Menschen, darunter auch meiner Mutter, vielleicht darüber gesprochen hat, aber er hat es nie aufgeschrieben. Hat er es Ihnen erzählt?«
»Ja, das hat er«, sagte El Zurdo. »Ich erzähle es Ihnen, wenn Sie wollen. Ich meine … je mehr diese Dinge zu Geschichte werden, desto unbedeutender scheinen sie zu sein. Sie haben bloß irgendwann einmal die Richtung eines Lebens bestimmt.«
»Erzählen Sie es mir.«
»Was wissen Sie über seine Eltern?«
»So gut wie gar nichts.«
»Nun, sie haben in den 20er und 30er Jahren ein Hotel in Tétouan betrieben. Seine Mutter war eine stramme Katholikin, sein Vater ein übler Trinker, der seine Schwäche an seinen Kindern und Angestellten ausgelassen hat. Mehr müssen Sie nicht wissen, um zu verstehen, was passiert ist.
Eines Morgens hat Franciscos Vater ihn mit einem der Hausboys im Bett erwischt und ist komplett ausgerastet. Während Francisco in einer Ecke des Zimmers auf dem Bett kauerte, hat sein Vater den Hausboy vor seinen Augen totgeschlagen. Erst als seine schreckliche Wut wieder abflaute, begriff der Vater, was er getan hatte. Die beiden haben die Leiche irgendwo verschwinden lassen, und Francisco wurde in das blutbespritzte Zimmer gesperrt, bis er jeden Tropfen abgewaschen und die Wände weiß getüncht hatte.«
El Zurdo lehnte sich mit ausgebreiteten Händen zurück.
»Und was hatte seine Mutter damit zu tun?«, fragte Falcón. »Sie sagten …«
»Sie hat nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen. Sie hat ihm all ihre mütterliche Zuneigung entzogen und sich verhalten, als wäre er gar nicht da. Sie hat nicht einmal einen Platz für ihn am Esstisch decken lassen. Soweit es sie und ihren kleinen katholischen Verstand betraf, hatte er sich auf unverzeihliche Weise versündigt.«
»Wann hat er Ihnen das erzählt?«
»Das ist lange her. Vor mehr als 20 Jahren.«
»Als Sie ein Paar waren.«
»Ja. Danach hat es eine Weile gedauert, bis er zu Männern zurückgekommen ist. Erst in Tanger nach dem Zweiten Weltkrieg hat er … obwohl er eine stille Leidenschaft für einen anderen Legionär hatte, der in Russland getötet wurde – Pablito … Aber daraus ist natürlich nie etwas geworden, Pablito wurde von einer Frau verraten.«
»Er erwähnt ihn in seinem Tagebuch. Mein Vater war in dem Erschießungskommando, das die Frau hingerichtet hat«, sagte Falcón. »Er hat absichtlich auf ihren Mund gezielt.«
»Wissen Sie, warum wir so lange ein Paar geblieben sind?«, fragte El Zurdo. »Weil ich nie versucht habe, ihn zu verstehen. Ich habe nie gebohrt. Manche Menschen mögen die Vertrautheit nicht, und Ihr Vater war einer von ihnen. Frauen mögen es. Sie wollen ihren Mann kennen. Und wenn sie herausfinden, wer man ist, und es gefällt ihnen nicht, tun sie entweder das eine oder das andere: Entweder sie versuchen, einen zu verändern, oder sie verlassen einen. Das sind die Worte Ihres Vaters, nicht meine. Ich war nie mit Frauen zusammen. Meine Vorlieben sind einseitiger.«
Sie gingen zum Mittagessen ins La Cubista. Javier bestellte Thunfisch, El Zurdo das Schweinefleisch. Während Falcón gequält schwieg, trank der Kopist Wein und lud ihn ein, das Gleiche zu tun. Dann kam das Essen.
»Kennen Sie den anderen Grund, warum Ihr Vater mich mochte?«, fragte El Zurdo. »Das ist seltsam, aber er mochte mich, weil ich Kopist war. Eigenartig, nicht wahr? Er hat das bewundert. Ihm gefiel, dass ich die Bilder auf dem Kopf gemalt habe. Er hat es als mangelnden Respekt gegenüber dem Original gedeutet, obwohl ich ihm erklärt habe, dass ich es nur mache, um mich nicht von
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