Der Blinde von Sevilla
er soll den Polizeipräfekten anrufen und ihm genau das erzählen, während ein erwürgter und missbrauchter Junge auf seinem Bett liegt. Er springt auf und beginnt, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dabei wirft er die Hände in die Luft und deklamiert lautstark in derselben fremd klingenden Sprache vor sich hin. Ich ohrfeige ihn, woraufhin er sich in eine erbärmliche Gestalt verwandelt und zu Boden sinkt. Er weint, und seine vogelartigen Schultern zucken. Ich ohrfeige ihn erneut, und er sieht mich an.
»Erzähl mir, was passiert ist«, sage ich. »Ich bin nicht dein Richter.«
»Ich habe ihn ermordet«, sagte er.
»Warst du in ihn verliebt?«
»No. No, no, que no!« , beteuert er nachdrücklich. Zu nachdrücklich.
Ich starre in ihn hinein und erkenne seine Verderbtheit, die so schrecklich ist, dass er sie sich selbst gegenüber nicht zugeben kann. Ich weiß, dass Ramón Salgado diesen Jungen nur getötet hat, weil er hasst, wozu sein Opfer ihn gemacht hat. Salgado ist eitel. Er ist ein großer Charmeur mit Frauen. M. und er verehren einander. Er hat Affären, die nie lange dauern. Er ist jetzt wohlhabend, berühmt und in seiner kleinen Welt respektiert, aber … er fickt gern kleine Jungen in den Arsch, und das kollidiert mit seinem vergoldeten Selbstbild. So deute ich es jedenfalls. Er hat den Jungen ermordet, weil der ihn gezwungen hat zu sehen, was er hasst.
Er sagt die schicksalhaften Worte:
»Ich hätte mich einem Skandal nicht stellen können.«
Ich verachte ihn nicht, nicht einmal dafür. Wer bin ich, dass ich irgendwen verachten könnte? Ich setze mich zu Füßen des Jungen aufs Bett und zünde Salgado eine Zigarette an.
»Wirst du mir helfen?«, fragt er.
Ich erzähle ihm eine Geschichte, die ich zum ersten Mal in den 40er Jahren von einem Freund von B. H. gehört habe, über einen reichen Homosexuellen, der in einer bekannten Schwulenbar in Manhattan eine Gruppe von Soldaten aufgegabelt und mit in die Wohnung seiner Mutter in der 5th Avenue genommen hatte. Sie waren alle betrunken, und einer der Soldaten schlief ein. Sie zogen ihm die Hose aus und fingen aus Jux an, ihm das Schamhaar zu rasieren. Dabei haben sie aus Versehen – das betone ich – seinen Schwanz abgeschnitten. Und was haben sie gemacht? Salgado sieht mich an wie Javier, wenn ich ihm eine Gute-Nacht-Geschichte erzähle, zusammengekauert und mit großen Augen. Sie haben ihn in eine Decke gewickelt und ihn von irgendeiner Brücke geworfen. Er hatte Glück, weil er von einem Polizisten gefunden und ins Krankenhaus gebracht wurde, bevor er verblutet war.
»Was hältst du davon, Ramón?«, frage ich.
Er blinzelt, verzweifelt bemüht, nicht das Falsche zu sagen und dafür vor die Tür geschickt zu werden.
»Wenn du mir hilfst, Francisco«, sagt er, »werde ich so etwas nie wieder tun.«
»Was? Jemanden umbringen?«
»Nein, nein, ich meine … ich werde nie wieder mit Jungen gehen. Ich werde ein vorbildliches Leben führen.«
»Ich werde dir helfen«, sage ich, »aber ich will wissen, was du von meiner Geschichte denkst.«
Er schweigt wieder, zu panisch, um irgendwas zu denken.
»Sie haben den Soldaten abgefunden«, füge ich hinzu. »Damit er keine Anzeige erstattet. Was glaubst du, wie viel?«
Er schüttelt den Kopf.
»200000, und das war 1946«, sage ich. »Damals hat man mit dem Verlust seines Schwanzes sehr viel mehr Geld gemacht als mit dem Malen von Bildern.«
Salgado stürzt an mir vorbei und übergibt sich auf der Toilette. Er kommt zurück und wischt sich den Mund ab.
»Ich weiß nicht, wie du so kühl bleiben kannst, Francisco.«
»Ich habe tausende von Menschen getötet, die alle so schuldig oder unschuldig waren wie du und ich.«
»Das war im Krieg«, sagt er.
»Ich will auch nur sagen, wenn man wie ich erst einmal ein Gemetzel von dieser Größenordnung mit angesehen hat, ist ein toter Junge in einem Hotelzimmer auch nicht mehr so schrecklich. Jetzt sag mir, was du von der Geschichte hältst.«
»So etwas zu tun ist furchtbar«, sagt er und zieht an seiner Zigarette.
»Schlimmer, als einen Jungen zu ermorden?«
»Er hätte genauso gut sterben können.«
»Genau. Und was verrät dir das über die Menschen, die du so unbedingt beeindrucken willst?«, frage ich. »Der Täter läuft übrigens nach wie vor frei herum und ist noch immer mit Barbara Hutton befreundet.«
Ramón ist zu durcheinander, um es selbst zu ergründen.
»Wir sind ihre Schoßhündchen«, sage ich. »Wir sind ihre kleinen Wundertiere –
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