Der Blinde von Sevilla
ja, sogar ich, Ramón. Sie streicheln uns, füttern uns mit Krümeln von ihrem Tisch, und wenn sie unserer überdrüssig werden, setzen sie uns vor die Tür. Den sehr Reichen bedeuten wir nichts. Absolut nichts. Wir sind weniger als Spielzeuge. Also vergiss nicht, wenn du ihren Champagner trinkst, dass es das hohe Ansehen dieser wertlosen Menschen ist, für das du diesen Jungen ermordet hast.«
Die Worte schlagen in seiner Brust ein wie hochkalibrige Kugeln. Er sinkt auf seinen Stuhl zurück.
»Für sie?«, fragt er verwirrt.
»Du hast den Jungen getötet, weil dir die Vorstellung nicht behagt hat, dass diese Leute über dich Bescheid wissen könnten. Du hast ihn getötet, weil es das eine ist, was du an dir selbst hasst, und weil du glaubst, dass die anderen es auch hassen werden. Und du hast dich gründlich geirrt.«
Er schluchzt. Ich tätschele ihm die Schulter.
»Francisco«, sagt er, »wo wäre ich bloß ohne dich?«
»An einem sehr viel glücklicheren Ort«, antworte ich.
Die Leiche zu entsorgen war nicht schwer. Wir haben sie um drei Uhr nachts in den Garten des Hotels getragen, über die Mauer gehoben, sie in den Wagen gepackt, zu den Klippen außerhalb der Stadt gebracht und ins Meer geworfen. Auf der Rückfahrt in die Stadt starrte Ramón vollkommen wortlos auf die Windschutzscheibe, ein Mann, der versucht, mit einer veränderten Welt zurechtzukommen, in der wegen eines Augenblicks der Blindheit nichts mehr so sein wird wie zuvor. Wenn man töten muss, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann sollte man es immer mit offenen Augen tun.
Falcón ließ die Fotokopien aus seinem Schoß auf den Boden gleiten, wo sie verstreut liegen blieben. Er war fasziniert von seinen eigenen Gedanken, von der Bestätigung seiner Vermutung, dass der Mörder Zugang zum Tagebuch seines Vaters gehabt hatte. Und nach den neuen Informationen von El Zurdo wurde Falcón klar, dass es einer der Kunststudenten gewesen sein musste, die sein Vater aufgenommen hatte, um seine Einsamkeit zu vertreiben.
Das Bellas Artes war geschlossen. El Zurdo konnte er nicht erreichen. Er blätterte durch das Adressbuch seines Vaters und fand den Namen eines Universitätsprofessors sowie eine Privatnummer. Er wählte sie, doch niemand nahm ab.
Seine Gedanken kehrten zu Raúl Jiménez und der Enthüllung zurück, über der die Freundschaft mit seinem Vater zerbrochen war. Er glaubte nicht, dass sein Vater dies in seinem Tagebuch unkommentiert gelassen hatte, obwohl es sich erst nach jenem letzten Eintrag ereignet hatte, in dem sein Vater seine totale Langeweile verkündet hatte.
Javier schob den Stuhl zurück und rannte nach oben. Auf der Galerie verlangsamte er seine Schritte und blieb vor dem Atelier schließlich stehen. Er starrte in die schwarze Pupille des Brunnens im Patio, als ihm ein scheinbar unzusammenhängender Gedanke kam. Eine der ungelösten Fragen des Falles war, was Sergio Raúl Jiménez gezeigt hatte. Woher hatte er seine Bilder? Salgados Grauen war leicht zu erklären gewesen. Sie hatten die nötigen Bilder samt Tonspur in der Truhe auf dem Speicher gefunden, aber in Raúl Jiménez’ Fall waren sie erfolglos geblieben. Trotz endloser Befragungen bei Mudanzas Triana hatten sie keinen Beweis dafür gefunden, dass die von Jiménez eingelagerten Sachen angerührt worden waren.
Er stieß sich von der Wand der Galerie ab und betrat das Atelier seines Vaters. In der Kammer fand er den entsprechenden Band des Tagebuches. Zehn Seiten nach dem, was er für den letzten Eintrag gehalten hatte, las er:
13. Mai 1975, Sevilla
Ich bin so zornig, dass ich zu meiner einsamen Beichte zurückkehren muss in der Hoffnung, dass mich das beruhigt.
Der Eintrag erzählte die Geschichte, die Falcón von El Zurdo gehört hatte, und endete:
Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn geritten hat, mir das jetzt zu erzählen, und ich bin laut brüllend aus dem Restaurant gestürmt. Er rief mir nach: »Ohne mich würdest du heute in Triana Fensterrahmen lackieren.« Es war eine enorme und kalkulierte Beleidigung, für die er die angemessene Strafe bekommen wird.
17. Mai 1975, Sevilla
Ein PS zu meinem letzten Zornesausbruch. Ich habe erfahren, dass mein alter Freund R. seine Strafe bereits bekommen hat. Offenbar ist sein jüngster Sohn in Almería gestorben, seine Frau hat Selbstmord begangen, indem sie sich hier in Sevilla in den Guadalquivir gestürzt hat, seine Tochter Marta ist in einer Nervenklinik in Ciempozuelos gelandet, und sein ältester
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