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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Sohn lebt in Madrid und spricht nicht mehr mit ihm. Nach dieser Serie von Katastrophen kommt mir alles, was ich im Sinn hatte, vor wie harmloses Fliegenklatschen. Ich glaube jetzt, dass er mir nur erzählt hat, was er getan hat, um mich loszuwerden. Ich war bloß ein weiteres Relikt aus einer problematischen Ära.

    Falcón blätterte die leeren Seiten bis zum Ende durch, bevor er zu dem letzten Eintrag zurückkehrte und ihn erneut las. Das Wort Ciempozuelos sprang ihm entgegen. Mit diesem Eintrag hatte Sergio alles gewusst – die ganze Familientragödie – und sogar einen Ansatzpunkt gefunden: Marta in Ciempozuelos. Doch Marta konnte kaum sprechen. Falcón ging im Kopf seinen Besuch in der Klinik noch einmal durch. Martas Verletzung, die von einem Arzt verbunden worden war. Ahmed, der sie zurück auf ihre Station gebracht hatte. Ihr Brechanfall nach dem Schock des Sturzes. Ahmed, der Eimer und Schrubber geholt hatte. Und dann sah er sie wieder vor sich, so deutlich wie eine kreative Eingebung: die Truhe unter Martas Bett.

32
    Sonntag, 29. April 2001, Falcóns Haus,
    Calle Bailén, Sevilla

    Ahmed hatte ihm nicht erzählt, was in der Truhe war. Falcón sah auf die Uhr, es war zehn Uhr abends. Er ging in sein Arbeitszimmer, fand sein Notizbuch und blätterte es durch, bis er den Namen von Martas Ärztin gefunden hatte – Dr. Azucena Cuevas. Er rief in der Klinik in Ciempozuelos an. Dr. Cuevas war aus dem Urlaub zurück und hatte am nächsten Morgen Dienst. Falcón sprach mit der Nachtschwester von Martas Station, erklärte sein Problem und was er zu sehen wünschte. Die Schwester sagte, dass Marta ihre Halskette nur zum täglichen Duschen abnahm und dass sie Dr. Cuevas seine Bitte am Morgen vortragen würde.

    Falcón hatte eine Schlaftablette zu viel genommen und verschlafen. Nur mit Mühe schaffte er mittags den AVE nach Madrid, der an einem Montag natürlich voll war. Er trug wieder seinen Anzug, hatte den Regenmantel über den Arm geworfen und seinen geladenen Revolver eingesteckt. Vom Zug aus rief er Dr. Cuevas an. Sie willigte ein, Martas tägliche Dusche auf den Nachmittag zu verschieben.
    Von der Estación de Atocha nahm er ein Taxi nach Ciempozuelos, wo er um 15.30 Uhr in Dr. Cuevas Büro saß und wartete, dass die Putzfrau Martas Truhe brachte.
    »Was wissen Sie über ihren Pfleger – Ahmed?«, fragte Falcón.
    »Über sein Privatleben gar nichts. Soweit es seine Arbeit betrifft, ist er außergewöhnlich, ein Mann von unendlicher Geduld, der gegenüber diesen unglücklichen Menschen nie auch nur die Stimme erhebt.«
    Die Truhe wurde gebracht und wenige Minuten später von einer Schwester auch der Schlüssel und das Medaillon an Martas Kette. Sie schlossen die Truhe auf. Es war ein kleiner Schrein für Arturo. Im Deckel steckten gerettete Fotos und eine handgemalte Geburtstagskarte – eine Strichfrau mit abstehenden Haaren und Augen neben dem Kopf, unter der in Krakelschrift »Marta« stand. In der Truhe fanden sich kleine Spielzeugautos aus Metall, eine graue Kindersocke, ein altes Schulheft, Bleistifte mit Zahnabdrücken an beiden Enden und ganz unten zwei Rollen 8-Millimeter-Film wie die, die sie im Lager von der Umzugsfirma entdeckt hatten. Er hielt einen Filmstreifen ins Licht und sah Arturo in den Armen seiner Schwester. Dann verstaute er alles wieder, klappte den Deckel zu und verschloss die Truhe. Er gab der Schwester den Schlüssel zurück, und die Putzfrau brachte die Truhe wieder auf die Station.
    »Wo ist Ahmed jetzt?«
    »Er geht mit zwei Patienten im Garten spazieren.«
    »Ich möchte nicht, dass er etwas von meinem Besuch erfährt.«
    »Das könnte schwierig werden«, sagte Dr. Cuevas. »Die Leute reden. Sonst gibt es hier nichts zu tun.«
    »Hat irgendwann einmal ein Kunststudent auf Martas Station gearbeitet?«
    »Wir haben vor einiger Zeit ein dreimonatiges Experiment mit einer Art Kunsttherapie gemacht«, sagte Dr. Cuevas.
    »Wie ist das abgelaufen?«, fragte Falcón. »Und wer waren die Kunsttherapeuten?«
    »Es hat immer an Wochenenden stattgefunden. Die Arbeit war unbezahlt. Man wollte bloß sehen, ob die Patienten auf kreative Anregungen reagieren, die sie möglicherweise an ihre Kindheit erinnern.«
    »Woher kamen die Künstler?«
    »Ein Vorstandsmitglied unserer Klinik ist Filmregisseur. Er hat aus seiner Firma junge Leute mit künstlerischem Hintergrund engagiert.«
    »Gibt es irgendwo Unterlagen darüber, wer sie waren?«
    »Ganz bestimmt. Wir haben ihre Reisekosten

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